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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0050

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Der Bildbefund der 1620er und frühen 30er Jahre

ist das Turiner dem Kasseler Gemälde in der Durch-
bildung des Gesichts überlegen. Der Turiner Kopf ist
natürlicher aufgefasst, seine Einzelformen sind orga-
nischer zusammengefügt. Dagegen wirkt der Greis
der Allegorie nicht nur stark typisiert, auch misslingt
die Integration einzelner Gesichtspartien, etwa die
»Darstellung der zerfurchten Stirn als zusammen-
hängende Fläche.«62
Klessmann stuft die Serie der Vier Elemente we-
gen ihrer offenkundigen Schwächen als Frühwerke
Lievens’ um 1624 ein.63 In der Tat sprechen die recht
schematische Darstellung der Gesichter und dar-
stellerische >Fehler<, wie z. B. die scheinbar in der
Luft schwebende linke Hand des Wasser ausgießen-
den Greises, die den Eimer nicht zu halten scheint,
für eine frühe Datierung. Gleichzeitig wird in der
kühnen Malweise, die weder Skizzenhaftigkeit noch
pastosen Farbauftrag scheut, jedoch ein Streben nach
neuen malerischen Möglichkeiten deutlich.64 Dieses
zeigt sich zu einem früheren Zeitpunkt, etwa in Lie-
vens’ Tricktrackspielern (Sammlung Spier) [Kat. 271],
zwar in Ansätzen, kommt aber noch nicht voll zum
Tragen.65 Am wahrscheinlichsten ist daher eine Ent-
stehungszeit der Elemente-Serie um 1625/26.66 Die
Turiner Tronie muss kurz danach, also noch 1625
oder 1626 entstanden sein.67 Etwa aus derselben Zeit
dürfte der Alte Mann mit Schreibfeder in Pau (Musee
des Beaux-Arts) [Kat. 280] datieren.68 Ein wenig frü-
her ist m.E. dagegen ein Greisenkopf im Profil nach
rechts (unbekannter Besitz) [Kat. 278, Taf. 59] anzu-
setzen.69 Die großzügige Malweise, die wulstige Ge-
wandbildung und die äußerlich aufgesetzten Lichter
deuten auf eine Entstehung in unmittelbarer Nähe

der Elemente-Serie.70 Die recht schematische Model-
lierung des Gesichts mit den in einzelnen parallelen
Bahnen voneinander getrennten Stirnfalten lässt sich
bei anderen Brustbildern von Lievens nicht mehr be-
obachten und entspricht der Stilstufe der Allegorie
des Wassers und Greisenalters [Kat. 275, Taf. III, 57].
Daher ist anzunehmen, dass die Tronie, wie wahr-
scheinlich auch der Turiner Kopf, früher entstanden
ist als die erste bekannte Tronie Rembrandts. Bei
dieser handelt es sich um das von den Autoren des
RRP um 1626/27 datierte Brustbild eines Mann mit
Federbarett und Halsberge (Privatbesitz) [Kat. 381,
Taf. IV, 80].71
Nicht nur für das Malen von Tronien im All-
gemeinen scheint Lievens den Anstoß gegeben zu
haben, vor allem ging er Rembrandt in der Darstel-
lung isolierter Greisenköpfe voraus. Rembrandts
Beschäftigung mit diesem Thema setzte zwar ver-
mutlich um 1626/27 ein, hatte jedoch noch keine mit
Lievens vergleichbare Eigenständigkeit erlangt: In
der Röntgenaufnahme des Brustbildes eines Mannes
mit Federbarett und Halsberge [Kat. 381, Taf. IV, 80]
ist unter der heutigen Bildoberfläche die Tronie eines
alten, nach unten blickenden Mannes zu erkennen. 2
Sollte Rembrandt selbst der Schöpfer des Greisen-
kopfes sein, handelte es sich wahrscheinlich um ein
nicht gelungenes Bild oder aber um ein Experiment
mit Studiencharakter, das der Meister übermalte,
nachdem es seinen Zweck erfüllt hatte.73 Möglicher-
weise erprobte Rembrandt die Darstellung einer
Greisentronie in Anlehnung an Lievens. Für diese
Annahme spricht nicht zuletzt die Beobachtung der
Autoren des Rembrandt-Corpus, dass der Stil des in

62 Schnackenburg 2001/02, S. 103.
63 R. Klessmann in Kat. Braunschweig 1979, Kat. Nr. 2-5, S.
43. Diese Einschätzung teilt Chr. Brown in Kat. Berlin /
Amsterdam / London 1991/92a, Kat. Nr. 52, S. 296.
64 Vgl. Gutbrod 1996, S. 98; Schnackenburg 2001/02, S. 100.
65 In Kat. Kassel / Amsterdam 2001/02, Kat. Nr. 8, S. 148f.,
wird das Bild um 1624/25 datiert. Sumowski 1983-1994, Bd.
3, Kat. Nr. 1178, datiert die Tricktrackspieler um 1623/25.
Die Abschreibung des Bildes durch Gutbrod 1996, S. 93f.,
überzeugt nicht. Die Bildung der Details, z.B. der Hände,
oder etwa die Auffassung des alten Mannes mit Brille, der
mit Lievens’ Kahlköpfigem Mann (Dublin, National Gallery
of Ireland) [Kat. 283] vergleichbar ist, entsprechen eindeutig
Lievensscher Formensprache.
66 Sumowski 1983-1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1216-1219, datiert die
Serie um 1625.
67 Dies vermutet auch Sumowski 1983—1994, Bd. 3, Kat. Nr. 2358.
68 Sumowski 1983-1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1250, datiert das Bild
um 1625/26; Gutbrod 1996, S. 309, datiert es 1626.

69 Zur Zuschreibung des Bildes an Lievens vgl. Bauch 1960, S.
217f.; Bauch 1967, S. 261; Schneider / Ekkart 1973, Kat. Nr.
S 370, S. 352; Sumowski 1983-1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1249.
70 Sumowski 1983-1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1249, datiert das Bild
um 1625/26; Schnackenburg nimmt in Kat. Kassel / Ams-
terdam 2001/02, Kat. Nr. 71, S. 346, Anm. 6, eine Entste-
hung im Jahr 1626 an.
71 Zur Datierung des Bildes vgl. RRP 1982-2005, Bd. 1, Kat.
Nr. A8, S. 127f.
72 RRP 1982-2005, Bd. 1, Kat. Nr. A8, S. 126, 128. Zu den von
Rembrandt in seiner Frühzeit vorgenommenen Überma-
lungen von Bildern vgl. außerdem Wetering 1982, S. 31—33;
ders. 2005, S. 96-98.
73 Das Bild lässt sich weder genau datieren noch sicher zu-
schreiben, RRP 1982—2005, Bd. 1, Kat. Nr. A8, S. 128. Zur
Annahme, Rembrandt habe eine eventuell missglückte Stu-
die Übermalt, vgl. Kat. Melbourne / Canberra 1997/98,
Kat. Nr. 1, S. 84.
 
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