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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0097

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Erscheinungsformen des holländischen Porträts 1615-1633

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zu kaschieren.26 Wie Arnold Houbraken berichtet,
schmeichelte Nicolaes Maes einer Auftraggeberin
im Porträt, indem er auf ihren Wunsch hin die schon
ausgeführten Pockennarben in ihrem Gesicht über-
malte.27 Das Bedürfnis der Auftraggeber, im Bildnis
schöner als in der Realität zu erscheinen, ändert je-
doch nichts an der grundsätzlichen Erfordernis na-
turgetreuer Darstellung zur Erfüllung der Memorial-
funktion.
Darüber hinaus verlangten die repräsentative und
die exemplarische Funktion von Porträts nach festge-
legten Regeln, die eine aus zeitgenössischer Sicht rich-
tige Beurteilung der Werke zuließen. Den Künstlern
stand ein bestimmtes Repertoire unterschiedlicher
Motive zur Verfügung, deren stereotyper Einsatz ei-
nen Code bildete, der den jeweiligen Dargestellten
auf eindeutige Weise charakterisierte und so ein den
Intentionen des Auftraggebers und des Malers ent-
sprechendes Verständnis des Porträts ermöglichte.28
Zu den betreffenden Motiven gehören neben Grö-
ße und gewähltem Ausschnitt des Porträts Kleidung
und Schmuck der Person, ihre Haltung, Gestik, der
Gesichtsausdruck sowie Beleuchtung, Farbwahl, Pin-
selführung, Hintergrundgestaltung und symbolische
Zugaben bzw. Attribute. Darüber hinaus ist auch das
Verhältnis, in dem die Dargestellten auf Pendant-,
Doppel- oder Gruppenbildnissen zueinander ste-
hen, von Bedeutung. Bei Ehepaarbildnissen, wie z. B.
Michiel van Mierevelds 1626 gemalten Pendants von
Ewout van der Dussen und seiner Frau Catharina
van derHoe/jr(Nieuw-Loosdrecht, Kasteei Sypesteyn)
26 Lairesse 1740, Bd. 2, S. 10f., 13f. Vgl. auch Dickey 1990, S.
238-240. Roger de Piles dagegen vertritt die Ansicht, dass
wichtige Persönlichkeiten, die sich durch ihre Würde, Tu-
genden und große Qualitäten auszeichnen, so naturgetreu
wie möglich porträtiert werden sollten, Piles 1708, S. 270.
Vgl. Spanke 2004, S. 141f.
27 Houbraken 1753, Bd. 2, S. 276f. Vgl. Jongh 1986, S. 21.
28 Die Verwendung des Begriffes >Code< wurde übernommen
von Raupp 1995b, S. 3-7. Dieser bezieht sich auf Jongh 1986,
S. 14f., 33, 36. Vgl. auch Smith 1982, S. 27, 37-47; Rooden-
burg 1995, S. 417-419.
29 Vgl. Slive 1970/74, Bd. 1, S. 51; Haak 1984, S. 99; Kat.
Haarlem 1986, Kat. Nr. 22, S. 134.
30 Vgl. auch Domela Nieuwenhuis 2001, Bd. 1, S. 74.
31 Vgl. Smith 1982, S. 25f., 43f.; Jongh 1986, S. 36-40. Greifbar
wird dieses zeitgenössische Verständnis der Geschlechterrol-
len z.B. bei Cats 1655, Mikrofiche Nr. 9, S. 80.
32 Der Vorzug der rechten Seite hängt mit der christlichen Vor¬
stellung von der rechten als der guten bzw. gesegneten Sei¬
te zusammen, die mit Christus assoziiert wurde. Bereits in
mittelalterlichen Stifterbildnissen nimmt der Mann die von

[Kat. 342, Taf. 73, Kat. 343, Taf. 73], lässt sich in der
Regel beobachten, dass die Frau heraldisch links und
der Mann von ihr aus gesehen rechts dargestellt ist.
Zudem fällt das Licht meist von links oben ein und
bewirkt dadurch auf dem nach rechts gedrehten Ge-
sicht des Mannes ein weitaus markanteres Spiel von
Licht und Schatten als auf dem voll ausgeleuchteten,
nach links gewandten Gesicht der Frau.29 In diesen
zum Code gehörenden Aspekten drückt sich das
zeitgenössische Rollenverständnis aus.30 Es beinhal-
tet die Auffassung von der geistigen und körperlichen
Überlegenheit und größeren Aktivität des Mannes
sowie der Unterordnung und sittlichen Zurückhal-
tung der Frau.31 Nicht nur war die rechte Seite, auf
welcher der Mann erscheint, die nach christlichem
Verständnis bevorzugte Seite.32 Wie David R. Smith
feststellt, wird dem Gesicht des Mannes durch die
Art der Lichtführung in aller Regel auch eine dra-
matischere Präsenz< verliehen,33 während die Frau
passiver erscheine. Zwar muss in Rechnung gestellt
werden, dass ein Frauengesicht dem zeitgenössischen
Schönheitsideal oder zumindest der von Gerard de
Lairesse vertretenen Idealvorstellung gemäß »over-
al van eene koleur en witheid«34 sein sollte und zu
diesem Zweck im Porträt am besten von vorne be-
leuchtet wurde. Doch drückt sich das beschriebene
Verhältnis von Mann und Frau auch in Haltung und
Gestik der Dargestellten aus. Den Mann zeichnen
häufig deutlichere Bewegungsmotive und eine stol-
zere Pose aus [Kat. 204, Taf. 43, Kat. 205, Taf. 43].
Gerade in der Gegenüberstellung von Pendants
Christus oder dem jeweiligen Heiligen aus gesehen rechte
Seite ein, Jongh 1986, S. 36.
33 Smith 1982, S. 47. Smith analysiert überzeugend den Zusam-
menhang zwischen dem Rollenverständnis der Zeitgenos-
sen und der formalen Gestaltung von Ehepaarbildnissen (S.
37-48). Dennoch ist sein methodischer Ansatz, die Porträt-
malerei des 17. Jahrhunderts ausgehend von den sozialwis-
senschaftlichen Theorien Erving Goffmans (Goffman 1959)
erklären zu wollen, nicht unproblematisch, da ein modernes
Verständnis von Kategorien wie Charakter, Individuum und
Selbstreflexion nicht unmittelbar auf das 17. Jahrhundert
übertragen werden kann. Smith’ Konzept von der sich im
Bildnis artikulierenden »sozialen Maske« der Dargestellten
ist mit dem Selbstverständnis der Auftraggeber des 17. Jahr-
hunderts insofern schwer vereinbar, als diese sich im Kontext
und nicht unabhängig von ihrer Beziehung zur Gesellschaft
und dem jeweiligen Platz, den sie darin einnahmen, als >In-
dividuum< definierten. Vgl. Raupp 1986a, bes. S. 256-259;
Raupp 1995b, S. 6.
34 Lairesse 1740, Bd. 2, S. 15. Vgl. auch ebd., S. 16; sowie Kat.
Washington / London / Haarlem 1989/90, Kat. Nr. 6/7, S. 144.
 
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