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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0122

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Der Bildbefund der 1620er und frühen 30er Jahre

Bildbefund der zwanziger und frühen dreißiger Jah-
re hervor, dass auch Selbst- bzw. Künstlerbildnisse
zu dieser Zeit an strikte Konventionen gebunden wa-
ren.54 Daher ist auszuschließen, dass die Zeitgenos-
sen die >Ausdrucksstudien< - sofern sie Rembrandt
erkannten - mit der Kategorie des repräsentativen
(Selbst-)Bildnisses in Verbindung brachten. Da der
mit der Porträtmalerei verbundene Erwartungshori-
zont an Bilder wie die genannten Selbstdarstellungen
gar nicht erst herangetragen wurde, kann auch nicht
angenommen werden, dass der zeitgenössische Be-
trachter sie, entsprechend der Deutung von H. Perry
Chapman, als persönliche Zeugnisse für Rembrandts
forschende Suche nach der eigenen Identität und als
Ausweis seiner Selbststilisierung als Außenseiter der
Gesellschaft interpretierte.55 Rembrandt stellt keinen
Bezug zu den Traditionen und Konventionen der
Gattung Porträt bzw. der Untergattung des Künst-
lerbildnisses her.56 Somit können die Bilder auch
nicht als bewusste Distanzierung von den an die
Porträtmalcrei geknüpften gesellschaftlichen Wert-
vorstellungen gedeutet werden.
Neben den als > Ausdrucksstudien« zu charakteri-
sierenden Bildern existieren auch frühe Selbstdarstel-
lungen von Lievens und Rembrandt, deren Haltung
und Gesichtsausdruck einen repräsentativeren, mit
Bildnissen eher vergleichbaren Eindruck machen. In
seinem >Selbstbildnis< mit federgeschmücktem Barett
in Boston (Isabella Stewart Gardner Museum) [Kat.
391, Taf. 83] beispielsweise wendet sich Rembrandt
selbstbewusst dem Betrachter zu,57 und Lievens nimmt

54 Zu Darstellungstradition und Charakteristika des nieder-
ländischen Künstlerbildnisses im 17. Jahrhundert vgl. Raupp
1984, bes. S. 18-137. Als Beispiel für ein holländisches Selbst-
bildnis der 1620er Jahre vgl. Abraham de Vries, Selbstbildnis,
Leinwand, 79 x 65 cm, bez.: Hane suam imaginem propria
manu depictam [...] A. de Vries Batavus anno 1621, Ams-
terdam, Rijksmuseum, Kat. Amsterdam 1976, S. 591; Raupp
1984, Abb. 25, S. 394.
55 Chapman 1990, bes. S. 3-10. Chapman betrachtet Rem-
brandts »Selbstbildnisse« als Ausdruck einer »penetrating self-
scrutiny« (S. 3) und entwirft für Rembrandt das Bild einer
außerhalb der Gesellschaft stehenden autonomen Künstler-
persönlichkeit: »From the very beginning, Rembrandt used
his self-portraits to label himself an outcast or an Outsider,
to set himself apart from the world of his contemporaries.«
(S. 136) Kritisch zu Chapman vgl. Smith 1990c; Royalton-
Kisch 1991; Jongh 1991, bes. S. 18; Wetering 1999/2000, S.
18f.; Wetering 2003, S. 28-33; ders. 2005b, S. 133-136.
56 Raupp 1984, S. 42, 166f., stellt fest, dass eine wesentliche Ei¬
genschaft des Künstlerbildnisses im 17. Jahrhundert in einer

in seiner Selbstdarstellung58 in Edinburgh (National
Gallery of Scotland) [Kat. 308, Taf. 66] eine geradezu
herrscherliche Pose ein. Darüber hinaus erscheinen
beide Maler in kostbarer Kostümierung. Die Figuren
weisen zwar keine signifikanten Attribute auf, die sie
im Sinne von portraits histories auf eine bestimmte
Rolle festlegen würden, theoretisch könnte es sich
jedoch um Kostümporträts handeln. Untypisch für
ein Porträt ist bei Lievens allerdings der weggedrehte
Blick und die Art der Lichtführung, die den stärk-
sten Akzent nicht auf das Gesicht, sondern auf die
goldene Schärpe, das gelbe Gewand und ein Stück
der Halsberge legt. Und auch bei Rembrandt ist die
undeutliche Angabe der verschatteten Augenpartie
eher porträt-untypisch. Hinzu kommt ein gewisser
Mangel an Ähnlichkeit mit Rembrandts Zügen auf
gleichzeitigen Selbstdarstellungen: das Gesicht wirkt
insgesamt »stärker in die Länge gezogen und die
Augen stehen enger beieinander.«59 Dies mag darauf
zurückzuführen sein, dass es bei der Schöpfung ei-
ner Tronie nicht primär auf exakte Ähnlichkeit mit
dem dargestellten Modell ankam.60 Darüber hinaus
aber könnte noch ein weiterer Aspekt eine Rolle ge-
spielt haben: Rembrandts Bostoner >Selbstbildnis<
wird in der Forschung mit einem ca. 1519 entstan-
denen Kupferstich Lucas van Leydens [Kat. 269, Taf.
57] in Verbindung gebracht, der einen ebenfalls nach
rechts gewandten, reich gekleideten jungen Mann in
Halbfigur mit melancholischer Miene, auffälligem
Federbarett und Totenschädel zeigt und den man im
17. Jahrhundert fälschlicherweise für ein Selbstbild-

»typologischen Konstanz« besteht, die eine Fortführung be-
stimmter Darstellungstraditionen und -konventionen des 16.
Jahrhunderts und damit verbunden die Verwendung festste-
hender Motive mit bestimmtem Bedeutungsgehalt beinhal-
tet. Vgl. auch Marschke 1998, S. 48f.
57 Vgl. auch Kat. London / Den Haag 1999/2000, Kat. Nr. 14a,
S. 112-117.
58 Der Dargestellte weist die gleichen Gesichtszüge auf wie das
>Selbstbildnis< in Phantasietracht in Kopenhagen (Statens
Museum for Kunst) [Kat. 289], Zu dessen Identifizierung als
Selbstdarstellung vgl. oben, Kap. II.1.1, S. 39, Anm. 16. Zur
Einschätzung des Bildes in Edinburgh als Selbstbildnis von
Lievens vgl. Kat. Braunschweig 1979, Kat. Nr. 31, S. 98; Su-
mowski 1983-1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1264; Kat. Stockholm
1992/93, Kat. Nr. 95, S. 272; Gutbrod 1996, S. 276f.
59 E. Buijsen in Kat. London / Den Haag 1999/2000, Kat. Nr.
10, S. 106.
60 Vgl. auch Wetering 2005b, S. 176.
 
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