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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0123

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Möglichkeiten der Unterscheidung von Porträt und Tronic

111

nis hielt.61 Bisher nicht in Erwägung gezogen wurde,
dass Rembrandt sich nicht nur hinsichtlich des Figu-
rentypus am Vorbild Lucas van Leydens orientiert,
sondern diesem auch die eigenen Gesichtszüge ange-
glichen haben könnte. Sowohl die Verlängerung des
Gesichts mit dem im Verhältnis zur Breite des Kop-
fes besonders großen Abstand zwischen Auge und
Kinnlinie als auch die optische Verschmälerung der
Nase stimmen mit den entsprechenden Merkmalen
des Jünglingsgesichtes Lucas van Leydens überein.
Weiter fällt auf, dass Rembrandt die reiche Ausstaf-
fierung mit Goldkette und juwelenverziertem Barett
in seinem Bostoner >Selbstbildms< zum ersten Mal in
einem Einfigurenbild verwendet. Die Selbstdarstel-
lung wird also sowohl durch die Auseinandersetzung
Rembrandts mit einem berühmten Vorgänger und
der durch diesen begründeten Bildtradition als auch
durch die kostbare Kostümierung der Figur nobili-
tiert.62 Die mangelnde Ähnlichkeit mit Rembrandts
tatsächlichem Aussehen spricht allerdings eher gegen
die Annahme, das Bild könnte als repräsentatives
Selbstporträt mit Memorialfunktion intendiert ge-
wesen sein.
Generell kann für die Selbstdarstellungen Rem-
brandts und Lievens’ vorausgesetzt werden, dass sie
nicht zu privaten Zwecken, als Resultat einer psycholo-
gisch motivierten Selbsterforschung und Identitätssuche

geschaffen wurden.63 Vielmehr waren sie als Verkaufsob-
jekte intendiert, sofern sie nicht im Werkprozess entstan-
den bzw. zu Studienzwecken angefertigt wurden. Wie
aber sollten sie von den Kunstliebhabern und -Sammlern
verstanden werden, was glaubten diese beim Kauf von
Gemälden wie den Werken in Boston und Edinburgh zu
erwerben? Im Zusammenhang mit dieser Frage ist die
jüngst von Ernst van de Wetering vertretene These zur
»mehrfachen Funktion< von Rembrandts »Selbstbildnis -
sen< von besonderem Interesse.64
Der Autor stellt zunächst fest, dass die Kunstlieb-
haber des 17. Jahrhunderts ein Werk in zunehmendem
Maße aufgrund seiner künstlerischen Qualität und
der maltechnischen Meisterschaft schätzten, mit der
es ausgeführt worden war, wohingegen dem Inhalt
der Darstellung geringere Aufmerksamkeit geschenkt
wurde. Damit verbunden stieg auch das Interesse am
jeweiligen Schöpfer eines Gemäldes und an dessen
Malstil.65 Der Ruhm besonders begabter Künstler
führte van de Wetering zufolge zu einem wachsen-
den Bedarf der Kunstliebhaber an den Porträts bzw.
Selbstbildnissen dieser Meister. Hieraus erkläre sich
die große Zahl von Selbstdarstellungen, die Künstler
wie Gerard Dou, Frans van Mieris d.Ä. und Rem-
brandt produzierten.66 Zwar räumt der Autor ein,
dass von manchen Berühmtheiten wie z.B. Rubens
nur eine sehr kleine Zahl eigenhändiger Selbstbildnisse

61 RRP 1982-2005, Bd. 1, Kat. Nr. A20, S. 223; Bruyn 1988a, S.
67; Kat. London / Den Haag 1999/ 2000, Kat. Nr. 10, S. 104;
Wheelock 2000/01, S. 16. In die in vierter Auflage erschienene
Serie gestochener Künstlerbildnisse von Domenicus Lampso-
nius u. Hieronymus Cock (ILLUSTRIUM QUOS BELGI-
UM HABUITPICTORUM EFIGIES, Antwerpen ca. 1600)
wurde der Stich fälschlicherweise als Selbstbildnis Lucas van
Leydens aufgenommen, Raupp 1984, S. 266; Filedt Kok
1996, Kat. Nr. 174, S. 156. Auch van Mander identifiziert
die Darstellung in seinem Schilder-boek als Selbstdarstellung
Lucas van Leydens, Mander / Miedema 1994-1999, Bd. 1, S.
108 (fol. 212v, Z. 35-37). Zu der von Lucas van Leyden durch
seinen Kupferstich begründeten Tradition einfiguriger >Me-
mento-Mori-Darstellungen<, in der auch Hals’/wzger Mann
mit Totenschädel (S 61) in London (National Gallery) steht,
vgl. Raupp 1984, S. 266-274; Kat. Washington / London /
Haarlem 1989/90, Kat. Nr. 29, S. 208-211.
62 Zu den Konnotationen reicher Kostümierung vgl. unten
Kap. IV.1.1. In späteren Selbstbildnissen trat Rembrandt
wiederholt in aemulatio mit berühmten Vorgängern, vgl. u. a.
Raupp 1984, S. 168-171; Manuth 1999/2000, S. 42-45; Win-
kel 1999/2000, S. 67-72.
63 Wetering 2003, S. 28—37, ders. 2005b, S. 133—136, verwirft
die entsprechende Auffassung von Chapman 1990, als ana¬
chronistisch. Vgl. auch Raupp 1980, bes. S. 8; Vries 1989, S.
197f.; sowie unten, Kap. III.1.9, S. 167f. m. Anm. 360.

64 Vgl. zum Folgenden Wetering 1999/2000, S. 26-36. Vgl. auch
Wetering 2003, S. 35-37; ders. 2005b, S. 132-144, bes. S. 137-143.
65 Zum Anstieg des Anteils zugeschriebener Werke in hollän-
dischen Inventaren im Laufe des 17. Jahrhunderts vgl. Mon-
tias 1982, S. 227; Montias 1991, S. 341; Goosens 2001, S.
255, 337-343. Hoogstraten 1978, erwähnt in seiner Einlei-
tung »aen den Lezer« (ohne Pag.), dass es viele >Namenkäu-
fer< (»naemkoppers«) gebe, die Bilder in erster Lime deshalb
kauften, weil sie von einem bekannten Meister stammten.
66 Vgl. auch Naumann 1981, Bd. 1, S. 126, der angibt, van Mieris
habe sich selbst in 121 erhaltenen Werken ca. 31 Mal selbst dar-
gestellt. Das steigende Interesse an den Bildnissen berühmter
Persönlichkeiten belegen die seit der Renaissance verbreiteten
Porträtsammlungen, Porträtbücher und gedruckten Serien be-
kannter Männer und gelegentlich auch Frauen (illustrium Ima-
gines / uomim illustri/famosi). Vgl. hierzu u.a. Rave 1959; Prinz
1971, bes. S. 17-31; Barnes 1989; Klinger 1991; Haskell 1995,
S. 37-93; Marschke 1998, S. 137-176; Manuti-i 1999/2000, S.
46-56; Pelc 2002; Turner 2002, 8 Bde. Vasaris Viten, die 1568
in zweiter Auflage auch mit Illustrationen erschienen (Vasa-
ri / Bettarini / Barrocchi 1966-1987), bildeten den Auftakt
für weitere Publikationen, die Biographien und Bildnisse von
Künstlern enthalten. Vgl. u.a. BlE 1661; Sandrart / Peltzer
1925 [1675]; Houbraken 1718-1721, 3 Bde. Zur Tradition des
Künstlerporträts vgl. Prinz 1971, bes. S. 22—28; Raupp 1984,
bes. S. 18-44; Manuth 1999/2000, bes. S. 41-46.
 
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