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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0125

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Möglichkeiten der Unterscheidung von Porträt und Tronie

113

Auch aus späteren Jahren finden sich Belege da-
für, dass man Rembrandts Gesichtszüge im 17. Jahr-
hundert erkannte.73 Unwahrscheinlich ist jedoch, dass
dies bereits Ende der zwanziger Jahre der Fall war, als
Rembrandt gerade erst damit begonnen hatte, Radie-
rungen nach dem eigenen Gesicht anzufertigen, durch
deren Verbreitung seine Physiognomie einem größeren
Publikum bekannt werden konnte.74 Vermutlich rea-
gierte Rembrandt nicht so sehr auf ein bereits vorhan-
denes Interesse an seinen Selbstdarstellungen, sondern
versuchte vielmehr, dieses zu entfachen. Selbst wenn er
auf seinen frühen Selbstdarstellungen erkannt worden
sein sollte, bedeutet dies nicht, dass die Zeitgenossen aus
dem Erscheinungsbild der Figuren auch ableiten konn-
ten, dass es sich um Künstlerbildnisse handeln müsse, die
den Funktionen der Gattung Porträt verpflichtet waren.
Letzteres hätte vorausgesetzt, dass die Verwendung ei-
ner Phantasietracht und troniespezifischer Merkmale für
Künstlerbildnisse Ende der zwanziger, Anfang der drei-
ßiger Jahre als Teil des Codes der Porträtmalerei wahrge-
nommen wurde, was jedoch sicher nicht der Fall war.
Aufgrund ihrer Qualitäten als künstlerisch und
motivisch interessante Einfigurenbilder konnten
Werke wie die Selbstdarstellungen in Boston [Kat.
391, Taf. 83] und Stockholm [Kat. 396] auch an
Personen verkauft werden, die den Dargestellten
nicht kannten oder die kein spezielles Interesse an
Rembrandt als Person besaßen. Wenn Rembrandt
oder Lievens ihre Selbstdarstellungen dagegen an
Kunstliebhaber veräußerten, mit denen sie in per-
sönlichem Kontakt standen, oder ein Käufer aus
anderen Gründen mit ihrem Aussehen vertraut war
und sie als Künstler schätzte, gewann das entspre-
chende Gemälde eine zusätzliche interessante Kom-

73 Vgl. GPI 1994-2003, N-2213, Nr. 0016 (Inv. Johannes de Renial-
me, Amsterdam 20.6.1657): »Rembrants conterfeijtsel anteijcke«
(vgl. Strauss / Meulen 1979, Dok. 1657/2, S. 397); Strauss /
Meulen 1979, Dok. 1647/1, S. 254 (Inv. Martin van den Broeck,
Amsterdam 28.3.1647): »‘t contrefeytsel van Rembrant«;
Strauss / Meulen 1979, Dok. 1648/7, S. 262 (Inv. Abraham
Bartjes, Amsterdam 14.12.1648): »Twee efigien van denconstrij-
cken schilder Rembrandt met sijn vrouw«; Postma 1988, S. 16,
fol. 283v (Inv. Herman Becker, Amsterdam 19.10.-23.11.1678):
»Een mans tronie van Rembrant sijnde sijn eijgen conterfeijt-
sel«; Strauss / Meulen 1979, Dok. 1658/22 [sic!], S. 426 (Rech-
nung der von Dirck van Cattenburgh an seine Schwester ver-
kauften Bilder, Amsterdam 1.12.1685): »Een schilderij sijnde
een tronye door Rembrant nae hem selven geschildert«; Win-
kel 1999/2000, S. 62, 73, Anm. 2 (Inv. Willem Spieringh, Delft
31.3.1689): »Een trony van Rembran[d]ts sijnde sijn contrefeyt-
sel«. Vgl. außerdem Dickey 2002, S. 29, S. 211, Anm. 30.

ponente und öffneten sich dem Kunstkenner weitere
Bedeutungsebenen.75 So erhält z.B. Rembrandts Be-
zugnahme auf Lucas van Leyden in seinem Bosto-
ner Bild, die man als aemulatio interpretieren kann,
durch die Identifikation des Modells als >Rembrandt<
einen konkreteren Bezug zu dessen Bestreben, sich
selbst in die nordische Tradition berühmter Meister
einzureihen - Lucas van Leyden war dabei als Maler
und zugleich Graphiker ein besonders wegweisendes
Vorbild für Rembrandt.76
Die Selbstdarstellungen Rembrandts und Lievens’
erfüllten in der Leidener Zeit offenbar unterschied-
liche Funktionen. Sie wurden als Studienobjekte oder
Übungsstücke eingesetzt; sie konnten als interessant
gestaltete Phantasiefiguren auf dem freien Markt
verkauft, aber auch Käufern angeboten werden, die
sich speziell für den jeweiligen Schöpfer interessier-
ten. Identifizierten die Zeitgenossen das Gesicht des
Künstlers, verlieh dies einem Bild besonderen Reiz
und steigerte möglicherweise auch seinen Wert. Dies
sagt jedoch noch nichts darüber aus, welche Funk-
tionen die frühen Selbstdarstellungen in den Augen
ihrer Käufer erfüllten - diejenigen offizieller Künst-
lerbildnisse waren es sicher nicht. Vielmehr ist da-
von auszugehen, dass die Zeitgenossen die in Leiden
entstandenen, phantasievoll kostümierten Selbstdar-
stellungen - selbst dann, wenn sie Rembrandt oder
Lievens erkannten - als Tronien bzw. als interessante
Phantasiefiguren, gegebenenfalls mit den Zügen
des jeweiligen Künstlers, betrachteten. Dies ändert
nichts an der Tatsache, dass Rembrandts gemalte
und radierte Selbstdarstellungen zur Verbreitung sei-
nes Aussehens und damit zu seiner Bekanntheit als
Künstler beitrugen.
74 Wetering 2003, S. 40, zufolge machten vor allem einige
zwischen 1631-48 radierte, häufig gedruckte Selbstbildnisse
(hauptsächlich B. 7, B. 19, B. 21, B. 22) Rembrandts Abbild
in Europa bekannt. Vgl. auch Wetering 2005b, S. 184-190.
75 Vries 1989, S. 197, weist darauf hin, dass die Käufer von Einfi-
guren- oder Genrebildern durchaus ein Interesse an der Identität
der dargestellten Modelle hatten. Dies sei jedoch nicht der primä-
re Anlass für die Herstellung des jeweiligen Bildes gewesen.
76 Zu Rembrandts Anlehnung an nordische Vorbilder in sei-
nen Selbstbildnissen vgl. Dickey 1994, S. 118-127; Manuti-i
1999/2000, S. 43f.; Winkel 1999/2000, S. 68-71; Dickey 2004,
S. 92-96. Zu Rembrandts Rezeption der Werke Lucas van Ley-
dens vgl. u.a. Tümpel 1969, S. 148f.; Wheelock 1983; Tümpel
1986, S. 272,279,282,311; Kat. Berlin / Amsterdam / London
1991/92b, Kat. Nr. 38, S. 274-277; White 1999, S. 46, 99f.
 
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