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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0130

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Verbreitung und Formen der Tronie

Die bisherige Untersuchung hat ergeben, dass
Bilder als Tronien zu betrachten sind, wenn sie ent-
weder Köpfe oder aber Brustbilder und Halbfiguren
ohne identitäts- und bedeutungsstiftende Kennzei-
chen bzw. Attribute zeigen und sich darüber hinaus
funktional von der Gattung Porträt unterscheiden.
Mit >identitäts- und bedeutungsstiftenden Kennzei-
chen2 oder Attributen* sind solche gemeint, die eine
Figur entweder als biblische, mythologische, histo-
rische oder literarische Person bzw. allegorische Per-
sonifikation ausweisen oder aber im Sinne des Bedeu-
tungsgehaltes von Genrebildern an einen bestimmten
- häufig moralisierenden - Ideenhorizont anknüpfen,
wie er etwa bei den Figuren der Utrechter Caravag-
gisten mit Gegenständen wie Instrumenten, Gläsern,
Weinkrügen und Ähnlichem verbunden ist.3 Isoliert
dargestellte Halbfiguren, die durch die Beigabe ent-
sprechender, signifikanter Attribute oder durch an-
dere Kennzeichen gewissermaßen >ikonographisch
definiert*, d. h. als einfigurige Historien- oder Genre-
bilder zu umschreiben sind, werden vorerst mit dem
Ziel ausgeklammert, eine Kerngruppe von Bildern zu
ermitteln, deren Zugehörigkeit zum Bildtyp der Tro-
nie außer Frage steht. Erst in einem zweiten Schritt
soll dann diskutiert werden, ob und in welchen Fällen
Historien- oder Genrebilder, die eine einzelne Halbfi-
gur zeigen, zur Gruppe der Tronien zu zählen sind.
Sofern man nicht von einer eigenen Gattung aus-
geht,4 wären aus Sicht des heutigen Verständnisses
von den Bildgattungen alle Tronien, die anonyme
Figuren zeigen und nicht als bestimmte benennbare
Personen oder Personifikationen identifiziert wer-
den können bzw. nicht als solche intendiert waren,
streng genommen als Genrebilder zu klassifizieren.5
Dies entspricht jedoch nicht dem zeitgenössischen
Verständnis der Werke, wie weiter unten dargelegt
wird.6 Zunächst ist festzustellen, dass ein großer Teil
der bereits behandelten, frühen Tronien von Rem-
2 Von »Kennzeichen* ist die Rede, weil gelegentlich auch Ele-
mente der Kleidung, physiognomische Merkmale oder Gestik
und Mimik einer Figur für ihre Identifizierung als bestimm-
te Person ausreichen können, ohne dass Attribute beigege-
ben sein müssen. Darstellungen eines weinenden Greises in
Halbfigur mit in die Hand gestütztem Kopf z. B. sind auch
ohne gegenständliche Zugaben wie das Standardattribut der
Weltkugel als Bilder des Philosophen Heraklit zu erkennen.
Vgl. Cornelis Ketels Weinenden Heraklit (Washington D. C.,
Sammlung James O. Beiden) [Kat. 251, Taf. 53], Zu Darstel-
lungen der Philosophen Demokrit und Heraklit in der nie-
derländischen Malerei vgl. Blankert 1967.
3 Zur Deutung der Halbfiguren der Utrechter Maler vgl. oben,
Kap. II.1.7, S. 76, Anm. 269. Zur Deutung speziell der Mu-

brandt und Lievens hinsichtlich Typus, Ausdruck
und Kostümierung den Figuren auf den Historien-
bildern der Maler entspricht.7 Aus diesem Grund ist
es gerechtfertigt, im Folgenden auch Halbfiguren mit
Attributen zu den Tronien ohne ikonographische
Festlegung zu zählen, sofern die Figuren zwar wie
die Protagonisten eines Historienbildes aussehen,
jedoch nicht als bestimmte Personen identifiziert
werden können. Hierzu zählen in erster Linie reich
gekleidete alte Männer und Frauen mit Buch oder
Stock, Männer mit Befehlshaberstab, Schwert oder
Pfeil und Bogen sowie Frauen mit Fächer oder Blume
in der Hand. Zwar können die Figuren bestimmten
Typen, etwa dem Typus des Gelehrten, Philosophen,
Feldherrn oder Jägers, der Prophetin, Sibylle oder
Kurtisane zugerechnet werden [vgl. u. a. Kat. 42, Taf.
7, Kat. 55, Taf. 10, Kat. 146, Taf. 31, Kat. 276, Taf.
58, Kat. 381, Taf. 80, Kat. 430, Taf. 91, Kat. 528, Taf.
109].8 Um welchen Gelehrten etc. es sich jeweils han-
delt, ist jedoch nicht auszumachen. Wie noch zu zei-
gen sein wird, war diese »ikonographische Offenheit*
von den Künstlern durchaus intendiert/9
Die betreffenden Tronien zeichnen sich durch
einen würdigen Habitus aus, wie er für die Figuren
auf Historienbildern typisch ist; dabei verleihen eine
aufrechte, ruhige Haltung und der ernste Blick zum
Betrachter den Dargestellten häufig ein ausgespro-
chen porträthaftes Aussehen. In ihrem würdevollen
Auftreten unterscheiden sich die im Sinne einer his-
torisierenden Überhöhung dargestellten, durch ihre
Attribute jedoch nicht auf eine bestimmte Rolle fest-
gelegten Figuren deutlich von der Mehrzahl der in
den Nördlichen Niederlanden verbreiteten halbfigu-
rigen Genrebilder mit nur einer Figur, die Maler wie
die Utrechter Caravaggisten schufen. Mimik, Gestik,
Haltung und Umgang mit den ihnen beigefügten Ge-
genständen geben Letztere in der Regel zweifelsfrei
als genrehafte Charaktere zu erkennen.
sikinstrumente in den Darstellungen der Utrechter Meister
vgl. jüngst Dekiert 2003.
4 Vgl. hierzu unten, Kap. III.4.1, 4.2.
5 Vgl. Blankert 1987, bes. S. 16. Für weitere Literatur zu Form
und Inhalt der niederländischen Genremalerei des 17. Jahr-
hunderts vgl. außerdem unten, Kap. III.2, S. 177, Anm. 1.
6 Zur Klassifizierung bestimmter Tronien als Bildaufgabe der
Historienmalerei vgl. unten, Kap. III.4.2.
7 Zweifellos siedelt Blankert 1982, S. 26f., Rembrandts Tro-
nien aus diesem Grund zwischen »Historie* und »Porträt*
und nicht etwa zwischen »Genre* und »Porträt* an.
8 Zur allgemeinen Rollenbestimmung unterschiedlicher Tro-
nietypen vgl. unten, Kap. III.3.2, V.l.
9 Vgl. unten, Kap. IV. 1.2.
 
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