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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0138

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Verbreitung und Formen der Tronie

schuf, interessante Tronien und nicht etwa repräsen-
tative Kostümporträts zu produzieren. Offensicht-
lich war eine gegenüber konventionellen Bildnissen
insgesamt freiere Ausführung, die das Kostüm der
Figuren einschließt, im ersten Jahrzehnt von Rem-
brandts Tätigkeit in Amsterdam seinen Tronien Vor-
behalten. Es finden sich keinerlei Bildbeispiele, die
das Gegenteil beweisen würden. Eine entsprechende
Art der malerischen Vortragsweise kann in den drei-
ßiger Jahren also als Kriterium zur Abgrenzung von
Rembrandts Tronien gegenüber der Gattung Porträt
gewertet werden.
In den vierziger Jahren stellt sich das Abgrenzungs-
problem zwischen Tronie und Porträt im GEuvre
Rembrandts nicht in gleicher Weise wie in den drei-
ßiger Jahren. Denn abgesehen von einigen phanta-
sievoll kostümierten Darstellungen seiner selbst und
seiner Frau, malte der Meister in dieser Zeit keine Ein-
zelfiguren in Phantasietracht, bei denen die Möglich-
keit der Verwechslung mit Porträts besteht. Die we-
nigen Figuren dieser Art, die aus den vierziger Jahren
erhalten sind,70 unterscheiden sich nicht nur hinsicht-
lich der Malweise von Bildnissen, sondern auch auf-
grund zusätzlicher Kriterien. Rembrandts Auf einer
Fensterbank lehnendes Mädchen in London (Dulwich
Picture Gallery) [Kat. 439, Taf. 93] beispielsweise trägt
ein weites, dekolletiertes Unterhemd, das für ein offi-
zielles Bildnis nicht geeignet gewesen wäre. Gleichzei-
tig weist das Bild eine besonders freie Behandlung der
Farbmaterie auf, die sowohl das Gewand als auch das
Gesicht des Mädchens betrifft.
70 Die in der frühen Forschung von Autoren wie Bredius, Bauch
und Gerson Rembrandt zugeschriebenen, phantasievoll kos-
tümierten Einfigurenbilder der vierziger Jahre werden heute
überwiegend nicht mehr als authentisch betrachtet. Vgl. unter
anderem Bredius 1935, Kat. Nr. 109, 185, 229, 236, 367, 234,
223, 364, 224, 235, 353, 363; dieselben Werke auch bei Bauch
1966, Kat. Nr. 503, 165, 183, 190, 507, 393, 388, 504, 389, 184,
494, 502; sowie bei Bredius / Gerson 1969. Zur Abschreibung
der Werke vgl. Tümpel 1993, Kat. Nr. A74 (Br. 109), S. 431,
Kat. Nr. A39 (Br. 185), S. 427, Kat. Nr. A40 (Br. 229), S. 427,
Kat. Nr. A42 (Br. 236), S. 427, Kat. Nr. A57 (Br. 367), S. 429;
Blankert 1982, Kat. Nr. R263 (Br. 224), R264 (Br. 363), S. 190;
Kat. New York 1995/96a, Kat. Nr. 26, S. 114-117 (Br. 234);
Kat. New York 1995/96b, Kat. Nr. 26-28 (Br. 234, 223, 364),
S. 100-107; Sumowski 1983-1994, Bd. 1, Kat. Nr. 2207 (Br.
235); Kat. Kassel 1996, Bd. 1, Kat. Nr. GK 238 (Br. 353), S. 64,
Bd. 2, Taf. 128. Schwartz 1987, Kat. Nr. 256 (Br. 185), S. 235,
Kat. Nr. 258 (Br. 236), S. 236, Kat. Nr. 269 (Br. 367), S. 243, hält
demgegenüber an bestimmten Zuschreibungen fest. Da für die
Mehrzahl der rembrandtesken Tronien nicht geklärt ist, ob es

Abschließend ist hervorzuheben, dass es sich -
mit Ausnahme einiger Darstellungen Saskias und des
Meisters selbst - bei Rembrandts aus den dreißiger
und vierziger Jahren erhaltenen reduzierten Einzel-
figuren in Phantasietracht ausschließlich um Tronien
handelt.71
Die Entwicklung nach 1650
Anders als zuvor stellt sich die Situation ab den fünf-
ziger Jahren dar. Zu dieser Zeit begann Rembrandt
damit, für männliche Bildnisse in zeitgenössischer
Tracht eine ausgesprochen freie, assoziative Malwei-
se unter Verzicht auf die genaue Angabe von Details
zu verwenden und sich auch hinsichtlich der Be-
leuchtung größere Freiheiten zu erlauben als noch
im Jahrzehnt davor. Besonders deutlich wird Ers-
teres in dem 1654 entstandenen Bildnis des Jan Six
(1618-1700) (Amsterdam, Sammlung Six) [Kat. 445,
Taf. 95]: Mit breiten Strichen dickflüssiger Farbe deu-
tet Rembrandt auf suggestive Weise Kostümdetails,
Handschuhe und Hände an, ohne sie jedoch in ihren
Einzelheiten auszuführen. In dem 1652 geschaffenen
Porträt von Nicolaes Bruyningh (1629/30-1680)
(Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister) [Kat. 443]
taucht der Meister nur den Kopf des Dargestellten
ins Licht, während der Rest der Figur stark verschat-
tet bleibt und Details der Kleidung nicht herausgear-
beitet sind.
Angesichts der veränderten Behandlung seiner
konventionellen Porträts ist ab Anfang der fünfzi-
ger Jahre damit zu rechnen, dass Rembrandt auch im
sich um Werkstattprodukte oder um Nachahmungen handelt,
die außerhalb der Werkstatt Rembrandts entstanden (vgl. un-
ten, Kap. III.1.4, S. 141), lässt sich gegenwärtig nur vermuten,
dass Rembrandt die Tronieproduktion in den vierziger Jahren
möglicherweise an seine Werkstatt deligierte. Zu den wenigen
allgemein als authentisch akzeptierten Werken gehören Rem-
brandts Darstellung Saskias mit Blume in Dresden (Gemäl-
degalerie Alte Meister) [Kat. 436], das Auf einer Fensterbank
lehnende Mädchen in London (Dulwich Picture Gallery, RRP
1982-2005, Bd. 3, Kat. Nr. 142) [Kat. 439, Taf. 93], das über
ein anderes Bild gemalte Mädchen im Bilderrahmen (Br. 358)
von 1641 (Königliches Schloss, Warschau, Kat. Amsterdam /
Berlin 2006, Kat. Nr. 33, S. 306-308) und die Kniefigur eines
Sitzenden alten Mannes in phantastischem Kostüm mit einem
Stock (Br. 239) von 1645 (Lissabon, Museu Fundagäo Calouste
Gulbenkian, Tümpel 1986, Kat. Nr. 139, S. 407, Abb. S. 239).
71 Weitere Ausnahmen könnten sich allerdings durch die Ver-
änderung der aktuellen Zuschreibungen an den Meister erge-
ben.
 
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