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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0148

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136

Verbreitung und Formen der Tronie

Nach 1645 schränkte Flinck das Malen von Tronien
stark ein und produzierte offenbar nur noch gele-
gentlich entsprechende Bilder.129
Ferdinand Boi
Der Rembrandt-Schüler Ferdinand Boi, dessen Lehr-
zeit bei Rembrandt Albert Blankert zufolge in die
zweite Hälfte der dreißiger Jahre fällt, ließ sich ver-
mutlich 1642 als selbständiger Meister nieder.130
Nach Blankerts Auffassung begann Boi erst ab 1644
damit, in der Nachfolge Rembrandts Tronien zu ma-
len.131 Dabei übersieht der Autor, dass Boi bereits
im Jahr 1642 eine datierte, auch bei Blankert selbst
verzeichnete Tronie schuf: die Junge Frau im Pro-
fil nach rechts in Potsdam (Schloss Sanssouci) [Kat.
43, Taf. 8].132 Das Bild orientiert sich stilistisch am
Werk Rembrandts. Beleuchtung, Malweise und Fi-
gurentyp schließen aus, dass es sich um ein Porträt
handelt.133 Ferner kann Bois Stehender Orientale mit
Prunkschwert in Milwaukee (Art Museum) [Kat. 42,
Taf. 7], für den derselbe alte Mann als Modell diente
wie für Rembrandts Orientalen in New York [Kat.
405, Taf. 86], aufgrund der motivischen und stilis-
tischen Nähe zu Rembrandts Orientalenbildern der
dreißiger Jahre in die frühen vierziger Jahre datiert
werden.134

Auch im weiteren Verlauf seiner Karriere schuf
Boi Gemälde, die aufgrund äußerer Merkmale zur
Gruppe der Tronien gezählt werden können. Ne-
ben einigen jungen Frauen und Männern in fikti-
ver Tracht135 [Kat. 49] gehören hierzu vornehmlich
phantastisch gekleidete Greise, Krieger und Orienta-
len136 [Kat. 59, Taf. 11] sowie Frauen in reichen Ge-
wändern oder nur im Unterhemd mit nachlässig um-
gelegtem Überwurf, die auf einer Fensterbrüstung
lehnen oder vor einem an der Seite herabhängenden
Vorhang erscheinen [Kat. 52, Taf. 10, Kat. 55, Taf.
10].137 Die vornüber gebeugte Haltung der Frauen im
Fensterrahmen, ihr tiefes Dekollete und der zur Sei-
te gewandte Blick machen auch bei den sorgfältiger
ausgeführten Figuren unwahrscheinlich, dass sie als
Bildnisse aufzufassen sind.138 Nahe liegender ist, dass
die in koketter Haltung inszenierten Frauen als gen-
rehafte Darstellungen bzw. >Phantasieporträts< von
Kurtisanen gemeint waren und damit an eine italie-
nische, vor allem venezianisch geprägte Tradition des
16. Jahrhunderts anknüpfen.139 Ihre Kostümierung
fällt allerdings häufig wesentlich reicher aus als die
Tracht der italienischen Vergleichsbeispiele wie auch
der genrehaften Kurtisanendarstellungen der Ut-
rechter Caravaggisten.140
Bois als Tronien erkennbaren Werken lassen sich
weitere Gemälde mit nur einer Figur in knappem

129 Eine der spätesten bekannten Tronien Flmcks ist der auf eine
Brüstung gestützte Alte Mann mit Goldkette, Leinwand,
99,5 x 84 cm, bez.: G. Flinck. f. 1651, Wien, Kunsthistorisches
Museum, Moltke 1965, Kat. Nr. 271, S. 123, Abb. S. 125;
Kat. Wien 1991, S. 57, Taf. 537, Nr. 380. Vermutlich dasselbe
Modell erscheint in einer Flinck von Moltke 1965, Kat. Nr.
67, S. 79; Sumowski 1983-1994, Bd. 2, Kat. Nr. 650, zuge-
schriebenen Tronie eines Greises von 1650 in unbekanntem
Besitz. Für weitere Tronien aus den fünfziger Jahren, die von
Flinck stammen könnten, vgl. Moltke 1965, Kat. Nr. 243, S.
116; Sumowski 1983-1994, Bd. 5, Kat. Nr. 2085, Bd. 6, Kat.
Nr. 2283.
130 Blankert 1982, S. 17f.
131 Blankert 1982, S. 57f.
132 Blankert 1982, Kat. Nr. 126, Pl. 135. Vgl. auch Sumowski
1983-1994, Bd. 1, Kat. Nr. 133.
133 Vgl. oben, S. 132.
134 Sumowski 1983-1994, Bd. 1, Kat. Nr. 117, datiert das Bild
um 1640. Die These von Blankert 1982, Kat. Nr. 74, S. 123,
der Orientale sei mit Flincks Pyrrhus und Fabritius von 1656
im Amsterdamer Stadthaus in Verbindung zu bringen, lehnt
Sumowski zu Recht ab. Eine weitere rembrandteske Tronie
aus der Frühzeit ist der Bärtige Greis mit Barett im Pelzman¬
tel (London, Buckingham Palace), den Sumowski 1983-1994,
Bd. 1, Kat. Nr. 132, und Bruyn 1984, S. 152, im Gegensatz
zu Blankert 1982, Kat. Nr. R73, S. 170, für authentisch

halten. Dieselbe Figur erscheint auf einer Radierung Bois
(Hollstein’s Dutch and Flemish Etchings 1949ff., Bd. 3
(o.J.), Kat. Nr. 7, S. 21), die u.a. aufgrund der undeutlichen
Wiedergabe des Gesichtes als Tronie zu bewerten ist. Dies
gilt somit auch für das Gemälde.
135 Vgl. z. B. Blankert 1982, Kat. Nr. 112, Pl. 121. Für dasselbe
Bild vgl. auch Sumowski 1983-1994, Bd. 1, Kat. Nr. 121. Vgl.
außerdem Sumowski 1983-1994, Bd. 5, Kat. Nr. 2012, 2013.
136 Vgl. Blankert 1982, Kat. Nr. 53, Pl. 27, Kat. Nr. 73, Pl. 81,
Kat. Nr. 75, Pl. 83. Vgl. für dieselben Bilder auch Sumowski
1983-1994, Bd. 1, Kat. Nr. 120, 129, 131. Vgl. außerdem Su-
mowski 1983-1994, Bd. 1, Kat. Nr. 132, Bd. 5, Kat. Nr. 2009.
137 Vgl. Blankert 1982, Kat. Nr. 127, Pl. 136; Kat. Nr. 131, Pl.
140, Kat. Nr. 133, Pl. 143, Kat. Nr. 135, Pl. 144, Kat. Nr. 171,
Pl. 182. Vgl. für dieselben Bilder Sumowski 1983-1994, Bd. 1,
Kat. Nr. 122, 123, 125, 145, Bd. 5, Kat. Nr. 2011.
138 Auf Bois weiblichen Porträts nehmen die Dargestellten eine
formellere Haltung ein, wenn sie sich auf eine Brüstung stüt-
zen. Vgl. Blankert 1982, Kat. Nr. 123, Pl. 132, Kat. Nr. 150,
Pl. 161.
139 Vgl. Kettering 1983, S. 51-55; Kat. Berlin / Amsterdam /
London 1991/92b, Kat. Nr. 45, S. 267-271; Kat. Rotterdam
/ Frankfurt 1999/2000, Kat. Nr. 9, S. 100; Dekiert 2003, bes.
S. 171-183. Allgemein zum venezianischen Kurtisanenbildnis
vgl. Kat. Venedig 1990.
140 Vgl. auch unten, Kap. V.l, S. 315f.
 
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