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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0198

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Verbreitung und Formen der Tronie

seine Tronien bekanntlich in enger Anlehnung an
sein Werk als Historienmaler entwickelt.
Verkompliziert wird die Lage dadurch, dass Dous
Greisin von einigen Autoren als Darstellung der Pro-
phetin Hanna gedeutet wird.5 Diese Interpretation
des Bildes gründet auf dem Vergleich mit Rembrandts
Lesender alter Frau in Amsterdam (Rijksmuseum)
[Kat. 401]. Rembrandts Greisin wird von Colin
Campbell und Christian Tümpel zu einem die Pro-
phetin Hanna zeigenden Stich von Karel de Mallery
nach Maerten de Vos [Kat. 334] in Beziehung gesetzt
und als Darstellung eben dieser Prophetin gedeutet.6 7
Dous Lösung weicht allerdings erheblich ab von
Rembrandts Bild und der Stichvorlage, auf der die
lesende Prophetin als sitzende, vornüber gebeugte
Ganzfigur in jüdischer Gebetstracht erscheint. Auch
enthält das Lektionarium, in dem Dous alte Frau
liest, nicht wie bei Rembrandt hebraisierende Schrift,
sondern ist in niederländischer Sprache verfasst. Da
Dou keine deutlichen Anhaltspunkte für die Inter-
pretation der Figur als Prophetin Hanna gibt, bleibt
ihre Identität also offen. Entscheidendes Kriterium
für die Klassifizierung des Gemäldes als Tronie ist
zudem, dass sich Dou an einem vorbildlichen Tronie-
typus orientierte, der angefangen bei Lievens’ und
Rembrandts Brustbildern reich kostümierter Grei-
sinnen eine eigene Bildtradition ausbildete.8 Bereits
weiter oben wurde gezeigt, dass das Anknüpfen an
eine etablierte Darstellungsform für die Beurteilung
eines Gemäldes als Tronie ausschlaggebend sein
kann.9
Im Gegensatz zu Dous Greisin sicher als be-
stimmte Person identifiziert werden kann das Brust-
bild einer lesenden alten Frau von Paulus Lesire in
unbekanntem Besitz [Kat. 267, Taf. 56]: Zum einen
ist am Kopfputz der Alten ein Zettel mit der Auf-
schrift »Cuman« befestigt, zum anderen verweist der

5 Sumowski 1983-1994, Bd. 1, Kat. Nr. 245; Kat. Washington /
London / Den Haag 2000/01, Kat. Nr. 2, S. 66.
6 Campbell 1971, S. 152, zit. nach RRP 1982-2005, Bd. 1, S. 355,
357, Anm. 4; Tümpel 1969, S. 178-180; Tümpel 1971, S. 31;
Tümpel 1986, S. 60f. Dieselbe Ansicht wird vertreten in RRP
1982-2005, Bd. 1, S. 355. Dagegen argumentieren Christiaan
Schuckman und Martin Royalton-Kisch in Kat. Amsterdam
1996, Kat. Nr. 4, S. 48; Blankert 1997/98a, S. 48.
7 Vgl. Kat. Amsterdam 1996, Kat. Nr. 4, S. 48. Zur Identifi-

Text in ihrem aufgeschlagenen Buch auf die Identität
der Figur als kumäische Sibylle.10 Hinsichtlich des
Typus’ der als Brustbild im Profil gegebenen, reich
gekleideten Greisin, die ins Lesen eines biblischen
Textes vertieft ist, gleicht das Bild Dous Lesender
alter Frau. Damit drängt sich die Frage auf, ob es
sinnvoll ist, allein aufgrund der Identifizierbarkeit
der Dargestellten eine Zuordnung zum Bildtyp der
Tronie auszuschheßen. Allgemeiner formuliert geht
es darum zu klären, in welchem Verhältnis Tronien
und einfigurige Historien- bzw. Genrebilder in redu-
ziertem Bildausschnitt zueinander stehen und ob die
Bildformen klar voneinander unterschieden werden
können. Dabei fragt sich, ob die Ausstattung einer
Halbfigur mit signifikanten Attributen für sich ge-
nommen bereits als Kriterium zur Abgrenzung eines
einfigurigen Historien- oder Genrebildes gegenüber
dem Bildtyp Tronie zu werten ist, selbst wenn das Er-
scheinungsbild des Gemäldes ansonsten demjenigen
von Tronien entspricht. Bereits im Zusammenhang
mit der Untersuchung der Tronien des Frans Hals
wurde diese Problematik angesprochen. Eine über-
greifende Studie zur Tronie in der niederländischen
Malerei des 17. Jahrhunderts muss sich schon des-
halb damit auseinandersetzen, weil nur so bestimmt
werden kann, welche Werke und Werkgruppen als
Gegenstand der Untersuchung zu definieren sind.
Davon wiederum hängt die Erforschung von Cha-
rakter, Funktion, Bedeutung und Wirkung von Tro-
nien ab. Darüber hinaus öffnet die Frage nach den
Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Tronien
und anderen reduzierten Einfigurenbildern, die
nicht der Gattung Porträt angehören, jedoch auch
den Blick für die Darstellungsabsichten der Schöp-
fer einfiguriger Historien- und Genrebilder des 17.
Jahrhunderts sowie die spezifischen künstlerischen
Anforderungen, denen sie sich gegenüber sahen.

zierung des Buches als Lektionarium, einer Bearbeitung der
Bibel für den Gottesdienst oder häuslichen Gebrauch, vgl.
Rotermund 1957, S. 134-138.
8 Zu den unterschiedlichen Tronietypen, die in der hollän-
dischen Malerei des 17. Jahrhunderts eine eigene Bildtradi-
tion ausprägten, vgl. unten, Kap. II.3.2.
9 Vgl. oben, Kap. III.1.3, S. 132, 133-135, Kap. III.1.7, S. 156.
10 Vgl. RRP 1982-2005, Bd. 1, S. 356; Sumowski 1983-1994, Bd.
3, Kat. Nr. 1142.
 
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