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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0200

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Verbreitung und Formen der Tronie

-format wesentlich stärker beschränkten als die Ut-
rechter Maler. Sie taten dies unter Bezug auf die Tra-
dition der Kopfstudie, mit der ihre Tronien auch in
funktionaler Hinsicht verbunden sind, da sie an-
fangs in enger Symbiose mit dem übrigen Werk der
Meister entstanden und oftmals den experimentellen
Charakter von Studien besitzen. Hierin besteht ein
fundamentaler Unterschied zum Schaffen der Ut-
rechter Caravaggisten. Mögen deren Bilder auch eine
Reihe äußerer Gemeinsamkeiten mit den in Leiden
und Haarlem produzierten Tronien der zwanziger
Jahre aufweisen, so gehen sie doch von einer anderen
Bildtradition aus. Studien gehören nicht zu den bestim-
menden Vorläufern ihrer Halbfiguren. Vielmehr orien-
tierten sie sich an italienischen und nordischen Halb-
figurenbildern des 16. und frühen 17. Jahrhunderts,
die als vollgültige Kunstwerke geschaffen wurden.18
Von italienischer Seite waren Bilder Giorgiones, Cara-
vaggios, Bartolomeo Manfredis und ihrer Nachfolger
besonders einflussreich, im Norden konnten Werke
von Malern wie Lucas van Leyden, Quinten Massys,
Marinus Reymerswaele und Jan van Hemessen den
Utrechtern als Inspirationsquelle dienen. Auf wel-
che konkreten Vorbilder sich die Halbfiguren der
Utrechter im Einzelnen beziehen, kann hier nicht
weiterverfolgt werden. Fest steht jedoch, dass die
von Lievens, Rembrandt und Hals in Leiden und
Haarlem initiierte Tronieproduktion auf völlig ande-
ren Voraussetzungen basierte und sich aus einer sub-
stantiell anderen Situation heraus entwickelte als die
Einfigurenbilder der Utrechter Maler. Dies bedeutet
nicht, dass Tronien nicht auch von deren Vorbild
und der Tradition einzeln dargestellter Halbfiguren
profitierten. Grundsätzlich jedoch unterscheiden sie
sich mit Blick auf ihre künstlerische Genese von den
Werken der Utrechter, die als >einfigurige Genre-
bilder< von den Tronien abgehoben werden können.
Darüber hinaus lassen sich neben den Gemeinsam-
keiten, die beide Bildgruppen in formaler Hinsicht

18 Zu den italienischen Vorbildern vgl. u.a. Nicolson 1958, S.
10-13; Slatkes 1965, S. 88; Kettering 1983, S. 37-40, 53-55;
Blankert 1986/87, S. 22; Slatkes 1986/87, bes. S. 44; Kat.
Utrecht / Braunschweig 1986/87, Kat. Nr. 10, S. 101, Kat.
Nr. 16, S. 116-118, Kat. Nr. 27, S. 154, Kat. Nr. 36, S. 185,
Kat. Nr. 43, S. 206; Bok 1988; Kat. San Francisco / Balti-
more / London 1997/98, Kat. Nr. 14, S. 172, Kat. Nr. 37, S.
242, Kat. Nr. 41, S. 256, Kat. Nr. 42, S. 257; Judson / Ekkart
1999, S. 16f.; Dekiert 2003, S. 68-70, 230. Eine umfassendere
Studie zur Bedeutung der nordischen Bildtradition für die
Entwicklung und Verbreitung des lebensgroßen Halbfigu-

aufweisen, auch äußere Merkmale der Utrechter
Halbfiguren benennen, aufgrund derer sie sich von
der Mehrzahl der oben behandelten Tronien unter-
scheiden.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass bei den in
Utrecht entstandenen Einfigurenbildern in aller Re-
gel eine Handlung im Vordergrund der Darstellung
steht, die sich auf die gegenständlichen Beigaben der
Figuren bezieht: Zum Beispiel musizieren die Dar-
gestellten, essen, trinken, blasen Feuer an, zählen
Geld oder beschäftigen sich in anderer Weise mit
ihren Attributen. Tronien sind dagegen sehr häufig
entweder gar nicht mit Attributen ausgestattet oder
aber die Figuren richten ihre Aufmerksamkeit nicht
auf die Gegenstände, die sie in der Hand halten.
Rembrandts Halbfigur eines Mannes in russischem
Kostüm (Washington, National Gallery of Art) [Kat.
430, Taf. X, 91] oder seine Junge Frau mit Fächer im
Profil (Stockholm, Nationalmuseum) [Kat. 409, Taf.
87] beispielsweise verwenden ihre Attribute nicht für
eine bestimmte Tätigkeit, sondern tragen sie eher wie
Accessoires und damit in einer Weise, die auch für
Porträts kennzeichnend ist. Überdies handelt es sich
bei ihren Attributen, die nicht als identitäts- oder im
Sinne der Genremalerei als bedeutungsstiftend zu
betrachten sind, um Gegenstände, die auch für Bild-
nisse typisch sind.19
Eine Ausnahme hinsichtlich des für viele Tronien
mit Attributen festzustellenden Fehlens einer auf
den Gegenstand bezogenen Tätigkeit bilden freilich
lesende Tronien [Kat. 91, Taf. 16, Kat. 448, Taf. 95].
Zudem spielt die Präsentation von Attributen bzw.
ein damit verbundenes Agieren gelegentlich bei Tro-
nien eine Rolle, die auf den Kopf der Figur reduziert
sind. Frans Hals’ Kindertronien in Schwerin sind hier
eines der prominentesten Beispiele [Kat. 213-214,
Taf. 45]. Entsprechende Werke unterscheiden sich je-
doch schon aufgrund des gewählten Bildausschnitts
von den Figuren der Utrechter.
renbildes mit nur einer Figur in den Nördlichen Nieder-
landen stellt ein Desiderat der Forschung dar. Auf einen
entsprechenden Zusammenhang wird eher verstreut hinge-
wiesen, vgl. z.B. Kat. Utrecht / Braunschweig 1986/87,
Kat. Nr. 15, S. 113f., Kat. Nr. 44, S. 213f., Kat. Nr. 29, S.
158f.; Bruyn 1988a, bes. S. 73; Kloek 1988, S. 53f.; Kat. Ut-
recht / Frankfurt / Luxemburg 1993/94, Kat. Nr. 43, S.
228; Judson / Ekkart 1999, Kat. Nr. 241, S. 191. Vgl. jüngst
ausführlicher Dekiert 2003, S. 285-296, bes. S. 295f.
19 Vgl. auch unten, Kap. IV.1.1.
 
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