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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0202

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Verbreitung und Formen der Tronie

Rembrandts 1632 geschaffener Apostel Petrus in
Stockholm (Nationalmuseum) [Kat. 404, Taf. 85] ist
durch den Schlüssel in seiner Hand als biblische Fi-
gur zu identifizieren, gleichzeitig entspricht seine
Gestaltung jedoch allen Anforderungen, die für die
Zuordnung zum Bildtyp der Tronie von Bedeutung
sind: Die Figur erscheint als Halbfigur vor neutralem
Hintergrund und ist nach dem lebenden Modell ge-
malt, was daraus zu schließen ist, dass Rembrandt ein
häufig verwandtes Amsterdamer Modell benutzte;22
der Fokus des Bildes liegt auf dem stark beleuchteten
Kopf und der Hand der Figur; das Gesicht zeichnet
sich durch freien, pastosen Farbauftrag aus, wohin-
gegen das schlichte Gewand Petri in dünnflüssigerer
Malerei aus geführt ist;23 der Blick zum Betrachter, die
Haltung und der ernste Gesichtsausdruck der Figur
verleihen ihr porträthaften Charakter. Auch spätere
Apostel- und Evangelistendarstellungen, die Rem-
brandt Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jah-
re malte,24 besitzen in formaler Hinsicht die für die
Klassifizierung eines Werkes als Tronie notwendigen
Eigenschaften. Zwar geht der gewählte Bildausschnitt
z.B. bei Rembrandts 1657 datiertem Apostel Bartholo-
mäus in San Diego (Timken Museum of Art) [Kat. 449,
Taf. 96] über den einer Halbfigur hinaus. Das Gesicht
22 Zur Verwendung des Modells vgl. oben, Kap. III. 1.2, S.
120, Anm. 19. Bereits Benesch 1956, S. 336, betonte die
Porträthaftigkeit der biblischen Halbfiguren Rembrandts:
»Rembrandt dared to portray the saintly figures of the Bible
as if they where living characters, people whom he encoun-
tered in real life.«
23 Vgl. Schnackenburg 2001/02, S. 114.
24 Zu Rembrandts Apostel- und Evangelistendarstellungen vgl.
u.a. Valentiner 1920/21, S. 219-222; Benesch 1956, S. 342-
348, 353; Tümpel 1986, S. 338-343 u. Kat. Nr. 81-84, 86-89;
Kat. Berlin / Amsterdam / London 1991/92a, Kat. Nr. 47, S.
275-277; Kat. Melbourne / Canberra 1997/98, Kat. Nr. 17,
S. 142-145, Kat. Nr. 21, S. 158-160, Kat. Nr. 32, S. 200f.; Kat.
Washington / Los Angeles 2005; Manuth 2005. Bezüglich
der Evangelistendarstellungen ist anzumerken, dass nur der
Evangelist Matthäus (Br. 614) in Paris (Louvre) aufgrund des
hinter ihm stehenden Engels zweifelsfrei zu identifizieren ist,
während weitere Rembrandt oder seiner Werkstatt zugeschrie-
bene, in der Forschung als Evangelisten betrachtete Figuren, wie
z. B. der von einigen Autoren als heiliger Lukas gedeutete Mann
mit roter Kappe (Br. 618) (Rotterdam, Museum Boijmans Van
Beuningen), nicht die typischen Evangelisten-Attribute zeigen;
vgl. Tümpel 1986, Kat. Nr. 89, S. 400; Kat. Berlin / Amsterdam
/ London 1991/92a, Kat. Nr. 47, S. 275f.; Kat. Melbourne /
Canberra 1997/98, Kat. Nr. 32, S. 200; Kat. Washington /
Los Angeles 2005, Kat. Nr. 13, S. 114-116.
25 Vgl. Kat. Melbourne / Canberra 1997/98, Kat. Nr. 17, S. 142;
Kat. Washington / Los Angeles 2005, Kat. Nr. 3, S. 78-80.

des Dargestellten steht jedoch neben seiner Hand (mit
dem Messer als Standardattribut des Heiligen) durch
die konzentrierte Beleuchtung im Zentrum der Auf-
merksamkeit.25 Darüber hinaus entsprechen die raue
Malweise des Bildes sowie die individualisierten Ge-
sichtszüge des Apostels den an eine Tronie gestellten
künstlerischen Anforderungen.26
Natürlich schließen Rembrandts Apostel und
Evangelisten an eine lange Tradition halbfiguriger
Darstellungen an. Diese beinhaltet bereits im 16.
Jahrhundert die Präsentation der heiligen Män-
ner als charaktervolle Persönlichkeiten, wie Dürers
oben schon angeführte, auf zwei Holztafeln gemalte
Brustbilder des Heiligen Philippus und des Heiligen
Jakobus d.Ä. (Florenz, Uffizien) [Kat. 104, Taf. 21,
Kat. 105] veranschaulichen.27 Zwei besonders wich-
tige niederländische Beispiele für gemalte Apostelse-
rien des 16. Jahrhunderts sind leider nur schriftlich
überliefert: Weder die 1595 im Nachlassinventar des
Erzherzogs von Österreich erwähnten »Brustbilder
von 12 Aposteln von Francisco Floris«28 noch die
beiden von van Mander beschriebenen Apostelserien
Cornelis Ketels29 sind erhalten.30 Im 17. Jahrhundert
führten zunächst flämische Meister wie Rubens und
van Dyck die Tradition solcher Folgen fort.31 Trotz
26 Die naturalistische Darstellung von Rembrandts Apostel-
darstellungen führte im 18. und 19. Jahrhundert zu Missdeu-
tungen der Werke. So hielt man den Heiligen Bartholomäus
(Br. 615) in Los Angeles (J. Paul Getty Museum) nicht nur
für das Bild eines Mörders, sondern auch für die Darstel-
lung eines Kochs, Tümpel 1986, Kat. Nr. 83, S. 399; Kat.
Melbourne / Canberra 1997/98, Kat. Nr. 17, S. 145; Kat.
Washington / Los Angeles 2005, Kat. Nr. 8, S. 101.
27 Vgl. oben, Kap. II. 1.6, S. 57. Zur Bildtradition gedruckter
und gemalter Apostelserien in der niederländischen Malerei
des 17. Jahrhunderts vgl. Urbach 1983.
28 Velde 1975, Bd. 1, Dok. 100, S. 488 (Inv. Erzherzog Ernst
von Österreich, Brüssel 17.7.1595).
29 Mander / Miedema 1994-1999, Bd. 1, S. 363 (fol. 276r, Z.
13-20).
30 Vgl. Glück 1927, S. 130; Vlieghe 1972, Bd. 1, S. 37; Urbach
1983, S. 17, 18-19.
31 Zu den Apostelserien van Dycks vgl. u.a. Glück 1927; Ur-
bach 1983; Larsen 1988, Bd. 1, S. 128-145; S.J. Barnes in Kat.
Washington 1990/91, Kat. Nr. 19/20, S. 130-134; Kat. Antwer-
pen / London 1999, Kat. Nr. 2, 3, S. 96f., Kat. Nr. 16,17, S. 124f.;
Lammertse 2002; N. de Poorter in Barnes et al. 2004, S. 67-70,
Kat. Nr. 1.51-1.79. Zu den Apostelserien Rubens’ vgl. Glück
1927, S. 130; Vlieghe 1972, Bd. 1, S. 34-38 u. Kat. Nr. 6-18; Ur-
bach 1983. Rubens’ laut Vlieghe 1972, Bd. 1, S. 35, zwischen
1610-12 geschaffene Apostelfolge im Prado (Apostolado Lerma),
die mehrfach in Kupferstichen reproduziert wurde, zählte im 17.
Jahrhundert zu den besonders einflussreichen Serien dieser Art.
 
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