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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0246

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226

Verbreitung und Formen der Tronie

Verständnisweisen und Bewertungsnormen«57 dieser
Gattung gab. Doch wird in der Forschung nur selten
ernsthaft diskutiert, ob die Grenzen zwischen den
verschiedenen Bildkategorien der Figurenmalerei,
die aus zeitgenössischer Sicht zu unterscheiden und
nach jeweils differierenden Kriterien zu beurteilen
waren, tatsächlich so gezogen wurden, wie es der
relativ statischen Einteilung des akademischen Gat-
tungssystems entspräche.58
Wurde beispielsweise die Darstellung eines mit
seinen Studien befassten, anonymen Gelehrten, der
wie Salomon Könincks Nach denkender Gelehr-
ter am Schreibtisch (unbekannter Besitz) [Kat. 260,
Taf. 55] in der Art der Figuren auf Historienbildern
gekleidet ist,59 anders bewertet als ein Gelehrter im
Interieur, der durch die Beigabe von Attributen als
bestimmte Person erkennbar wird?60 * Gehörte also
demnach z.B. der vermutlich aus Rembrandts Werk-
statt stammende Apostel Paulus am Schreibtisch^ in
Wien (Kunsthistorisches Museum) [Kat. 481, Taf.
101] zumindest aus Sicht der Kunsttheoretiker und
des gebildeten Publikums einer anderen Bildkate-
gorie an als ein Werk wie Könincks Nach denkender
Gelehrter am Schreibtisch!
Obwohl die Wahl eines inhaltlich eindeutig de-
finierten Stoffes bei van Hoogstraten im Regelfall
zu den Kennzeichen einer Historie gehört, bietet
sein dreistufiges Modell der »dryderley graden der
konst«62 hinsichtlich der Zuordnung eines Bildes wie
des Gelehrten von Köninck größeren Spielraum als
das akademische Gattungssystem. Auf der dritten
und höchsten Stufe seines Modells siedelt der Au-
tor »het uitbeelden der gedenkwaerdichste Histo-
rien«63 an. Im Zusammenhang mit der Koppelung
seiner Gattungshierarchie an ein ursprünglich auf
Aristoteles zurückgehendes philosophisches Kon-

zept, demzufolge die belebte Natur in drei Seelen-
vermögen eingeteilt werden könne, charakterisiert
van Hoogstraten Bilder der höchsten Stufe wie folgt:
»De Schilderyen dan, die tot den derden en hoogsten
graed behooren, zijn die de edelste beweegingen en
willen der Reedewikkende schepselen den menschen
vertoonen.«64 Die Darstellung hochherziger Gemüts-
bewegungen und Willensakte des Menschen, die sei-
ner Vernunft entspringen, qualifiziert ein Gemälde
also als Bild, das höchste Anerkennung verdient. Im
Werk eines Historienmalers trete der Mensch als ver-
nunftbegabtes, durch seinen Verstand geleitetes We-
sen in Erscheinung: Wie van Hoogstraten formuliert,
müsse man darin die »Reedewikkingen of mensche-
lijke zielen«65 gewahr werden.
Die Darstellung eines würdigen Greises, der in der
ernsthaften Auseinandersetzung mit Gott oder der
Wissenschaft begriffen ist und - in seinen Studien kurz
innehaltend - nachdenklich zum Betrachter blickt,
erfüllte zweifellos diesen Anspruch. Zwar handelt es
sich bei Könincks Gelehrtem am Schreibtisch [Kat.
260, Taf. 55] nicht um eine Ereignisschilderung mit
narrativem Inhalt. Doch wurde bereits dargelegt,
dass auch im Ausschnitt reduzierte Figuren, die nicht
in eine Handlung verwickelt sind, als Historienbilder
eingestuft werden konnten, wenn sie eine bestimmte
Persönlichkeit vorstellten. Darüber hinaus entspre-
chen Präsentation und Erscheinungsbild des Greises
dem Postulat der würdigen Darstellung einer Person
von Bedeutung, wie es für die Historienmalerei galt.
Das Beispiel verdeutlicht, dass die offensichtliche
Festlegung einer Figur auf eine bestimmte Identität
nicht zwingend als Voraussetzung für die Zuordnung
eines Bildes zur höchsten Stufe der Malerei im Sinne
van Hoogstratens angesehen worden sein muss. Für
Tronien, die motivisch mit den Protagonisten auf

57 Raupp 1983, S. 401.
58 Blankert 1986/87, S. 25, wirft aufgrund der Tatsache, dass
die Utrechter Caravaggisten für Figuren auf ihren Genre-
und Historienbildern dieselben Kostüme verwandten, die
Frage auf, ob die Maler und ihr Publikum »die beiden The-
menkreise überhaupt als klar geschiedene Bereiche empfan-
den.« Vgl. auch Blankert 1987, S. 22-24.
59 Vgl. die Darstellungen von Gelehrten am Schreibtisch in den
mehrfigurigen Historien Könincks, z.B. Sumowski 1983—
1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1078, 1098.
60 Für einen alten Gelehrten am Schreibtisch, der wie Könincks
Greis Barett und Samtmantel trägt, durch seine Attribute aber
als bestimmte Person gekennzeichnet ist, vgl. z. B. Rembrandts
Radierung des Heiligen Hieronymus in einer dunklen Kam¬
mer (B. 105) von 1642, Kat. Boston / Chicago 2003/04, Kat.

Nr. 146, S. 220f. Für Darstellungen Gelehrter, die in ihre Stu-
dien vertieft, aber nicht durch bestimmte Attribute konkreti-
siert sind, vgl. auch Sumowski 1983—1994, Bd. 4, Kat. Nr. 1600,
Bd. 5, Kat. Nr. 2002, Bd. 6, Kat. Nr. 2456; RRP 1982-2005, Bd.
2, Kat. N1-. A95; Kat. Paris 1988/89, S. 23f.; Kat. Frankfurt
1993/94, Kat. Nr. 6, S. 140.
61 Zur Beurteilung des Bildes als Werkstattarbeit vgl. Bruyn
1989, S. 27f.; sowie jüngst Kat. Kassel / Amsterdam 2001/02,
Kat. Nr. 87, S. 388-391.
62 Hoogstraten 1678, S. 75. Zu van Hoogstratens Dreistufen-
modell vgl. jüngst Czech 2002, S. 183-185, 264-271.
63 Hoogstraten 1678, S. 79.
64 Hoogstraten 1678, S. 87.
65 Hoogstraten 1678, S. 87.
 
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