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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0248

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228

Verbreitung und Formen der Tronie

Aussagen über den jeweiligen Charakter und Stand
der dargestellten (Genre-)Figuren zulassen und da-
mit unter Umständen auch eine moralisierende Bot-
schaft beinhalten.73 Genrehaft aufgefasste Tronien
zeichnen sich häufig durch eine rückhaltlose, gele-
gentlich sogar ausgesprochen drastische Affektäu-
ßerung aus. Besonders evident wird dies am Beispiel
von Bauerntronien, die lachende oder Grimassen
schneidende Figuren mit stets grober, hässlicher Phy-
siognomie zeigen [Kat. 364-367, Taf. 78]. An der sa-
tirischen Intention dieser Figuren kann kein Zweifel
bestehen:74 Aufgrund ihres abstoßenden Äußeren so-
wie ihres unzivilisierten, rüpelhaften und närrischen
Verhaltens - nämlich der unkontrollierten Artiku-
lation triebgeleiteter Affekte - wurden die Figuren
einerseits als komisch und lächerlich empfunden,
andererseits enthielt ihre Darstellung eine morali-
sierende Aussage im Sinne der Warnung vor laster-
haftem und törichtem Verhalten.75 Sie folgen einem
wichtigen Grundprinzip der Genremalerei, indem
sie in überzeugender Weise Affekte zur Anschauung
bringen, die dem decorum der Gattung entsprechen.
Gleichzeitig transportieren die betreffenden Tronien
- trotz der äußersten Reduktion des Bildausschnitts
- wesentliche Inhalte der Genremalerei.
Die engen Verflechtungen von Tronien mit der His-
torien- und der Genremalerei erlauben es, die Werke
dem jeweils dargestellten Figurentyp gemäß den
beiden genannten Gattungen zuzuordnen. Bei der
Schöpfung einer Tronie sah sich der Künstler einer be-
stimmten, eingegrenzten Problemstellung gegenüber:
der Darstellung einer Einzelfigur, die in Hinblick
auf die Erfindung eines phantasievollen Kostüms,
die lebensechte Darstellung einer interessanten bzw.
charakteristischen Physiognomie, die Konzentration
auf spektakuläre Lichteffekte sowie die gestalterische
Umsetzung im Sinne der Demonstration eines indi-
viduellen Malstils besondere Anforderungen an den
Maler stellte. Die genannten Aspekte waren für sich
genommen weder der Historien- noch der Genrema-
lerei fremd. Der Maler einer Tronie stellte sie jedoch

73 Vgl. u.a. Miedema 1977, bes. S. 211; Raupp 1983, bes. S. 404,
408, 409f., 412, 414f.; Raupp 1990b, S. 55f.; Kemmer 1998, S.
99-104, bes. S. 99, 102; Muylle 2001, S. 193-195.
74 Zu satirischer Intention und satirischem Stil des bäuerlichen
Genres vgl. Raupp 1986b, bes. S. 126-133, 310-321; Raupp
1987, S. 237-243.

in den Mittelpunkt seiner Bildschöpfung und orien-
tierte sich dabei an Vorgängerwerken, die das Spek-
trum unterschiedlicher Darstellungsmöglichkeiten
vorgaben. Maler wie Hals, Lievens, Rembrandt, Dou,
Backer und van Ostade hatten ein bestimmtes Reper-
toire unterschiedlicher Trometypen entwickelt, an
denen sich jüngere Meister messen und von denen sie
bei der Produktion eigener Werke ausgehen konnten.
Ihre Orientierung an den diversen bereits etablierten
Formen und Typen der Tronie belegt, dass nach der
Einführung des Bildtyps in die holländische Malerei
bestimmte Ansprüche und Wertmaßstäbe an ein ent-
sprechendes Werk gestellt wurden, deren Einlösung
zu den Anforderungen des Troniemalers gehörte.
Damit sind Tronien als eigene künstlerische Aufga-
be der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts zu
verstehen. Diese ist innerhalb der Historien- und der
Genremalerei zu verorten und tritt dementsprechend
in sehr unterschiedlichen Ausprägungen auf. Die Zu-
ordnung von Tronien zur Historien- oder zur Genre-
malerei spielt für das Verständnis der Bilder insofern
eine Rolle, als sie einige der spezifischen Aufgaben
dieser Gattungen erfüllten.76 Gleichzeitig zeichnen
sie sich durch eine Reihe allgemeiner Charakteristika
und Eigenschaften aus, die unabhängig vom jewei-
ligen Tronietyp zur Geltung gebracht wurden und
aufgrund derer Tronien im Sinne einer eigenen Bild-
aufgabe mit jeweils unterschiedlicher formaler und
inhaltlicher Ausrichtung zu fassen sind.
Von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass
die Bildaufgabe Tronie gattungsübergreifend in Er-
scheinung tritt. Ihre Stellung im Gattungsgefüge lässt
es sinnvoll erscheinen, die Kriterien der Zuordnung
von Figurenbildern des 17. Jahrhunderts zu einer
bestimmten Gattung zu hinterfragen und herkömm-
liche Vorstellungen von einem bereits im 17. Jahr-
hundert festgefügten System der Bildgattungen zu
überdenken. Gerade Tronien deuten darauf hin, dass
die zeitgenössische Unterscheidung verschiedener
Bildkategorien weniger statisch zu denken ist, als es
die akademische Gattungseinteilung suggeriert.

75 Zu bäuerlichen Genreszenen des 17. Jahrhunderts und der
zeitgenössischen Auffassung von den darin zum Ausdruck
gebrachten Affekten vgl. Miedema 1977, bes. S. 211; Raupp
1987, bes. S. 238-242.
76 Vgl. unten, Kap. V.l, V.2.
 
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