Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0319

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der Einfluss des Bildtyps Tronie auf die Porträtmalerei

291

lieh lobt.127 Offenbar diente die Selbstdarstellung
aufgrund ihrer Eigenschaft als auftragsunabhängiges
Werk als geeignetes Bildsujet, um ein maltechnisches
Experiment durchzuführen.
Im nächsten Schritt nutzte Ketel die neue Technik
bei der Anfertigung zweier Halbfiguren für einen
Auftraggeber. Bei diesen kam es zwar grundsätzlich
- wie bei Tronien - nicht auf Porträtähnhchkeit an,
auf Wunsch des Auftraggebers verwandte Ketel je-
doch für eine der Figuren die eigenen Gesichtszüge:
»Dees proef gedaen / voer voort / en maeckte voor
Const-liefdigen Sr. Hendrick van Os t’Amsterdam /
eenen Democntus, en Heraclitus, hem seif in’t beeldt
Democriti, ter begheerte van desen van Os, conter-
feytende / en staet seer wel en gloeyende uyt der
handt.«128 Hendrick van Os erhielt mit dem Philo-
sophenpaar nicht nur ein Beispiel für die erstaunliche
Kunstfertigkeit Ketels, die ihn befähigte, die Bilder
mit den Fingern auszuführen, sondern gleichzeitig
ein Bildnis des Meisters, der das Kunststück voll-
bracht hatte. Schließlich ging Ketel dazu über, auch
Auftragsporträts mit den Fingern zu malen:
»Onder ander Conterfeytselen dus gedaen / wesende besieh met
t’Conterfeytsel van d’Heer Morosini, nae het nette met den vingheren
te schilderen / quam den Pinceel-maker op den aengang / welcken
hem wenschte aen elcken vinger een Exter-oogh: want hy was alleen
die door sulck gebruyek te cort comen soude. Een Man woonende
in der Mosco / liet hem oock dus conterfeyten / om dat te toonen
den grooten Vorst / daer hy seer gemeen mede was.«129
Ketels Erfindung, mit den Fingern zu malen, wurde
also von Auftraggebern auch für ihre Bildnisse ak-
zeptiert und als besonderes Kuriosum geschätzt.
Unabhängig davon, dass es sich bei Ketels erstem
mit den Fingern gemalten Bild, seinem Selbstporträt,
vermutlich nicht um eine Studie handelte, ist eine prin-
zipielle Analogie zu Rembrandts in Leiden geübtem
Umgang mit Selbstdarstellungen zu konstatieren:
Rembrandt setzte diese zum einen zu experimentellen
Zwecken ein, zum anderen sind die Bilder - wie das
127 Zu van Manders Ausführungen zu Ketels ungewöhnlicher
Maltechnik mit den Fingern vgl. jüngst Stanneck 2003, S.
57-67. Stanneck stellt die These auf, Ketels malerische In-
novation sei als Auflehnung gegen das bestehende Gilde-
system zu verstehen. Wahrscheinlicher ist m. E., dass der
Akt des Malens mit den Fingern unter Verzicht auf den
Pinsel, der ebenso zum Handwerkszeug des Malers wie
des gewöhnlichen Anstreichers gehörte, in den Augen van
Manders den Status der Malerei als ars liberalis (im Ge-
gensatz zum Handwerk) unterstreicht. Denn das Malen
mit den Fingern beweist, dass der Maler auch ohne hand-

Selbstbildnis Ketels - als erster Schritt innerhalb eines
fortschreitenden Entwicklungsprozesses zu verstehen.
Zudem lieferten Rembrandts Tronien nach dem eige-
nen Gesicht - ebenso wie Ketels Figur des Demokrit -
einerseits eine Kostprobe seiner technisch bemerkens-
werten Kunst anhand eines für sein Schaffen typischen
Sujets und andererseits ein Abbild des Schöpfers dieser
Kunst. Die von van de Wetering angenommene Dop-
pelfunktion von Rembrandts Selbstdarstellungen in
Tronie-Manier findet sich bei Ketel gewissermaßen be-
reits vorgeprägt und durch van Mander überliefert.130
Malte Rembrandt schließlich auch Auftragsporträts in
der Art seiner Tronien bzw. in der Art seiner tronie-
ähnlichen Selbstdarstellungen, so kann auch hierin eine
Parallele zum Vorgehen Ketels gesehen werden.
Aus der festgestellten Analogie lässt sich natür-
lich nicht ableiten, dass sich Maler von Selbstdar-
stellungen und Kostümporträts in Tronie-Manier
nach dem von van Mander beschriebenen Vorbild
richteten. Der Vergleich zeigt jedoch, dass die Mög-
lichkeit, eine bestimmte Innovation zunächst anhand
der Selbstdarstellung zu erproben und später auf
Auftragsbildnisse zu übertragen, im 17. Jahrhundert
bereits eine Tradition besaß.
Das dem Künstlerbildnis inhärente kreative Po-
tential führte in den dreißiger Jahren offenbar zur Er-
schließung eines neuen Bildnistyps, den Rembrandt
anhand seiner Tronien entwickelte. Somit kommt
Künstlerbildnissen eine entscheidende Rolle bei der
Herausbildung des Kostümporträts in Tronie-Ma-
nier zu. Darüber hinaus waren phantasievoll geklei-
dete Bildnisse der Ehefrauen von Künstlern bzw.
Pendants zu Künstlerbildnissen in Phantasietracht
als Vorbilder für weibliche Auftraggeber von Kos-
tümporträts geeignet. Erinnern wir uns daran, dass
Rembrandt bereits in der ersten Hälfte der dreißiger
Jahre mit der Arbeit an dem Kasseler Porträt Saskias
mit rotem Federbarett [Kat. 422, Taf. XXIII, 89] be-
gann, das seine Frau in einer Kleidung a l’antique
zeigt.131 Ebenfalls in Phantasietracht erscheint Saskia,
werkliches Gerät zur Schöpfung herausragender Kunst-
werke fähig ist.
128 Mander / Miedema 1994-1999, Bd. 1, S. 371 (fol. 278r, Z.
16-19).
129 Mander / Miedema 1994-1999, Bd. 1, S. 371 (fol. 278r, Z.
16-25).
130 Vgl. oben, Kap. II.3.4, S. lllf.
131 Vgl. RRP 1982-2005, Bd. 2, Kat. Nr. A85, S. 436f. Zur Klei-
dung Saskias vgl. jüngst Winkel 2001, S. 63; Winkel 2005, S.
64f. Vgl. außerdem oben, Kap. III.1.2, S. 124, Anm. 54, Kap.
III.3.2, S. 212f.
 
Annotationen