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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0344

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316

Bedeutung, Funktion und Wertschätzung von Tronien

[Kat. 52, Taf. 10] ebenfalls in dieser Weise verstanden
werden sollten oder möglicherweise als reich ge-
kleidete Prinzessinnen oder Heldinnen der Vergan-
genheit, deren Schönheit gleichzeitig Zeichen ihrer
Tugend ist.54
Am wahrscheinlichsten ist m.E., dass die positive
oder negative Ausrichtung der Deutung solcher Fi-
guren wie auch vieler anderer porträthaft wirkender
Tronien letztlich vom individuellen Betrachter eines
Bildes abhing. Zweifellos bewegte sich das Verständnis
der Werke im Rahmen bestimmter stereotyper Inter-
pretationsmuster, die durch den jeweiligen Figurentyp
vorgegeben waren. Die >ikonographische Offenheit/
von Tronien räumte dem Betrachter aber gleichzeitig
ein hohes Maß an Freiheit ein. So konnte er der Tronie
eines Orientalen, Gelehrten, Feldherrn, eines Prinzen
oder einer Prinzessin etc. nach eigener Vorliebe eine
bestimmte Identität zuweisen. Von dieser wiederum
hing die Bewertung der Figur als exemplum virtutis
oder als exemplum scelentatis ab.55
Der bereits geschilderte Fall, in dem Hugo Allard
eine Tronie van Vliets als (Phantasie-)Bildnis Gy-
örgy Räköczys I. (1593-1648) [Kat. 538, Abb. 46,
S. 260] herausgab, zeigt, dass die Figur einer reich
kostümierten Tronie mit Halsberge, Federbarett und
Goldkette z.B. als erfolgreicher Heerführer eines
fremden Landes interpretiert werden konnte.56 Auf-
grund der protestantischen Konfession Räköczys,
seiner Förderung der reformierten Kirche und seiner
antihabsburgischen Politik im Dreißigjährigen Krieg
nahm man den Fürsten in den calvinistisch geprägten
54 Vgl. auch Kat. 533, Taf. HO. Zur zeitgenössischen Deu-
tung äußerer Schönheit als Zeichen innerer Tugend vgl.
unten, Kap. V.2.1, S. 323.
55 Vgl. Pelc 2002, S. 52.
56 Vgl. oben, Kap. IV. 1.2, S. 260.
57 Zur Person Räköczys vgl. Bucsay 1977/79, Bd. 1, S. 172-
174; K. Benda in BLGS 1974-1981, Bd. 1 (1974), S. 26f.
58 Zum negativen Bild der Osmanen in den Niederlanden
des 15.-18. Jahrhunderts vgl. Theunissen 1989. Zum ne-
gativen Bild der Osmanen in Venedig vgl. Wilson 2003,
bes. S. 49f.
59 Drossaers / Lunsingh Scheurleer 1974-1976, Bd. 1, S.
530, Nr. 177 (Inv. Huis Honselaarsdijk 1707-1713-1719).
60 Vgl. RRP 1982-2005, Bd. 2, S. 156f.
61 Im Jahr 1694 wurde Lievens’ Bild im Inventar des
Schlosses als »de Grooten Turck« geführt, Drossaers /
Lunsingi-i Scheurleer 1974-1976, Bd. 1, S. 456, Nr. 26
(Inv. Huis Honselaarsdijk 1694/1702). Wahrscheinlich
war schon hier Sultan Süleyman gemeint. Die Verwen¬
dung der genannten Bezeichnung für den Sultan ist durch
einen Georg Pencz zugeschriebenen Holzschnitt (TIB
1978ff., Bd. 13/Com. (1984), S. 506) von ca. 1530 bereits

Nördlichen Niederlanden zweifellos als positive Ge-
stalt wahr.57
Identifizierte man dagegen eine Orientalentronie
als türkischen Sultan, ist mit einer eher ambivalenten
Einstellung des Betrachters zu rechnen, da es sich aus
europäischer Sicht um einen heidnischen, gegebe-
nenfalls feindlichen Herrscher handelte.58 Im Inven-
tar des Schlosses in Honselaarsdijk wurde Lievens’
heute in Potsdam (Schloss Sanssouci) aufbewahrter
Orientale [Kat. 290, Kat. 61] im Jahr 1707 als »Sultan
Soliman van Rembrandt«59 bezeichnet.60 Vermutlich
geht diese Identitätszuweisung auf eine bereits im
17. Jahrhundert entstandene Deutungstradition des
Bildes zurück.61 Trotz der Vorbehalte, die ein Nie-
derländer gegenüber einem Herrscher wie Süleyman
(1520-1566) haben mochte, riefen dessen vergangene
Macht und kriegerischen Erfolge im Europa des 17.
Jahrhunderts doch durchaus Bewunderung hervor.62
Auch übte die Darstellung einer solchen Figur auf-
grund ihrer Exotik besonderen Reiz aus und befrie-
digte ohne Zweifel em Interesse an dem fremden
Volk, mit dem die Niederländer Handel trieben.63
Freilich konnten Orientalentronien auch mit
anderen osmanischen Herrschern in Verbindung
gebracht werden: Porträtbücher wie dasjenige Pao-
lo Giovios boten hierfür zahlreiche Anregungen.64
So ist nicht ausgeschlossen, dass gerade Brustbilder
grimmig wirkender Orientalen gelegentlich als nega-
tive exempla fungierten, indem man in ihnen orien-
talische Herrscher erblickte, die als Despoten oder
Tyrannen galten.65
für das 16. Jahrhundert belegt. Das Blatt zeigt das Brust-
bild Süleymans im Rund und ist mit der Inschrift >Grant
Turck< versehen. Von der Bekanntheit des Sultans in
Nordeuropa zeugt die große Zahl der im 16. Jahrhundert
vornehmlich von deutschen Meistern gestochenen Bild-
nisse, vgl. u.a. Hollstein’s German Engravings 1954ff.,
Bd. 15 (1986), Kat. Nr. 66, S. 93, Bd. 22 (1978), Kat. Nr.
34, 35, S. 208-211, Bd. 30 (1991), Kat. Nr. 37, S. 189f., Bd.
48 (2000), Kat. Nr. 174, S. 91; TIB 1978ff., Bd. 13/Com.
(1984), Kat. Nr. 61, S. 659-661; Kat. London 1988, Kat.
Nr. 2-4a, S. 48-51. Für ein Porträtbuch, das ein Porträt
Süleymans enthält, vgl. z.B. Giovio 1575, S. 372.
62 Vgl. Roding 1989, S. 55; Theunissen 1989, S. 38. Hoogstra-
TEN 1978, S. 356, nennt Sultan Süleyman interessanterweise
ganz selbstverständlich neben Franz I. und Karl V. als einen
den Künsten zugewandten Herrscher und lässt den Sultan
damit in positivem Licht erscheinen. Zu'Person und Politik
Süleymans vgl. Kat. London 1988, S. 1-43.
63 Zum Flandel der Niederlande mit dem Osmanischen
Reich vgl. z.B. Slot 1989.
64 Vgl. Giovio 1575, passim.
65 Vgl. Wilson 2003, S. 44.
 
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