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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0350

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322

Bedeutung, Funktion und Wertschätzung von Tronien

Van Manders Ausführungen liegt die Auffassung
zugrunde, dass die inneren Gefühlsregungen des Men-
schen bestimmte äußerliche Bewegungen des Körpers
und des Gesichts verursachen. Demnach geben die
im Gemälde dargestellten mimischen und gestischen
Bewegungen der handelnden Figuren einer Historie
Auskunft über deren Gemütszustände und Leiden-
schaften. Die überzeugende Wiedergabe von Emo-
tionen war gerade deshalb besonders wichtig, weil
sie dazu beitrug, das Mitgefühl und die Rührung des
Betrachters auszulösen.8 Die Ansicht, dass hierin ein
zentrales didaktisches Ziel der Kunst bestehe, vertritt
bereits Leon Battista Alberti in seinem einflussreichen
Traktat De Pictura (Basel 1540): »Unter dem Einfluß
der antiken Rhetorik - dem docere, delectare undper-
movere - wird die Wirkung auf die Affekte des Be-
trachters [bei Alberti] in den Mittelpunkt gerückt und
dem Ziel einer sittlichen Formung untergeordnet.«9
Die künstlerische Vermittlung von Gemütsregungen,
die den Betrachter zum emphatischen Miterleben
veranlassen sollte, wurde dabei in Albertis Augen in
erster Linie durch die Darstellung von Körperbewe-
gungen erzielt: »[...] seelische Bewegungen erkennt
man an den Bewegungen des Körpers.«10
Grundsätzlich liegt diese Vorstellung auch Fran-
ciscus Junius’ Behandlung überzeugender Affektdar-
stellung im Historienbild in seiner 1637 in lateinischer
Sprache in Amsterdam erschienenen Schrift De Pic-
tura, Veterum zugrunde,11 die ein Jahr später auch auf
Englisch und 1641 auf Niederländisch publiziert wur-
de.12 Doch legt Junius im vierten Kapitel des dritten
Buches,13 in dem er nach eigener Aussage »Motion
or Life, and therein Action and Passion«14 behandelt,
wesentlich größeres Gewicht auf das menschliche
Gesicht als Ausdrucksträger als dies noch bei Alberti
und van Mander der Fall war.15 Junius beschreibt den
Kopf als »principall member« und »main instrument
8 Vgl. Mander / Miedema 1973, Bd. 2, S. 494, 495, Nr. VI If.
9 Weber 1991, S. 204. Vgl. auch Kwakkelstein 1994, S. 21-25;
Brassat 2003, S. XIVf. Zur Bindung der Kunsttheorie des 16.
und 17. Jahrhunderts an die antike Rhetorik vgl. u. a. Lee 1940;
Ellenius 1960, S. 60-62, 71-96; Raupp 1983, passim; ders. 1984,
S. 262-266; Pochat 1986, S. 309-311; Weber 1991, S. 243-251.
10 »[Sed hi] motus animi ex motibus corporis cognoscuntur.«
Alberti / Grayson 1972, Kap. 41, S. 79.
11 Vgl. Junius / Aldrich / Fehl 1991, bes. S. 257-271.
12 Zur Editionsgeschichte des Werkes vgl. Junius / Aldrich /
Fehl 1991, S. XIVf.
13 Junius / Aldrich / Fehl 1991, S. 257-271.
14 Junius / Aldrich / Fehl 1991, S. 195.
15 Auch Schwartz 1989, S. 99, betont, dass Junius das Gesicht
als »the chief carrier of emotional meaning« betrachte.

whereby we doe expresse such affections and passions
of our minde as are most decent and suitable for the
present occasions.«16 In Anlehnung an Quintilian, Ci-
cero, Seneca und Plinius17 folgt die Beschreibung un-
terschiedlicher Empfindungen und Gemütszustände,
die sich in der Kopfhaltung und im Gesicht des Men-
schen ausdrücken können:
»The head being cast downe, signifieth humblenesse; being cast
back, arrogance; being hung on either side, languishing; being
stiffe and sturdie, it signifieth a churlish barbarousnesse of the
minde. Wee have also certaine wayes of graunting [granting],
refusing, and avouching with our head: besides that therein are
seated the passions of bashfulnesse, doubtfulnesse, admiration
[wondering], and indignation [...]. The countenance therefore
beareth here the greatest sway; smce we doe sue, threaten, and
fawne by the gesture of our countenance: wee are knowne by our
countenance to be sad, merrie, full of courage, or eise dejected
and abased: our countenance draweth the eyes of men to it seife,
before we doe either stirre or speake: it is easie to reade love or
hatred in our countenances; seeing wee are better understood by
them, then by all the words of the world: nay, the motions of the
countenance doe best expresse the state of the mind.«18
Junius’ Darlegungen spiegeln die Auffassung wider,
dass sich ein momentaner Gefühlszustand unmittel-
bar auf den Gesichtsausdruck einer Person auswirkt
und an diesem abgelesen werden kann. Auch Samu-
el van Hoogstraten misst in seiner Inleyding (1678)
gerade dem Gesicht als Indikator der »hartstoch-
ten en driften des gemoeds«, deren Behandlung der
Autor ein eigenes Kapitel widmet,19 besondere Be-
deutung zu. Nach der Anführung einiger Beispiele
für antike Werke, welche die Gemütsverfassung der
Dargestellten in besonders eindrücklicher Weise an-
schaulich machen, schreibt der Autor: »Maer deeze
beweegingen des gemoeds worden wel meest in het
aengezicht bespeurt, na welkers trekkingen die van
het lichaem zieh ook voegen.«20 Das Gesicht dient
16 Junius / Aldrich / Fehl 1991, S. 258.
17 Junius / Aldrich / Fehl 1991, S. 258, Anm. 12.
18 Junius / Aldrich / Fehl 1991, S. 258.
19 Hoogstraten 1678, S. 108-115.
20 Hoogstraten 1678, S. 109. Vgl. auch ebd., S. 117: »Gelijk
dan het hooft het voornaemste deel des lichaems is, zoo is
het zelve ook het voornaemste werktuig, waer meede men
de beweegingen des gemoeds met een uiterlijke beweeging te
kennen geeft.« Goeree 1682, o.S. [S. 4 der »Voor-reden aan
den bescheiden Leser«], ist der Auffassung, »dat de kragtigste
Zieltogten des Gemoeds, in de trekken van het Aangesigt veelsinds
afgebakend staan, en datter tusschen die beyde soo nauwen
gemeenschap is, dat den geheelen Mensch in sijn Aangesigte
woond.« Letzteres sei zudem »‘t voornaamste Spiegel-boek
[...] van Ziel en Lichaam.« (S. 5 der »Voor-reden«).
 
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