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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0362

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334

Bedeutung, Funktion und Wertschätzung von Tronien

dass die Zeitgenossen anhand der Gesichtszüge einer
Tronie auf einen eindeutig als gut oder als schlecht
zu bestimmenden Charakter des Modells schlossen,
enthielten die Werke doch zumindest das Angebot,
die äußere Erscheinung einer Figur genau zu studieren
und ihren Eigenschaften ebenso nachzuspüren, wie
dies zuvor der Maler mit Blick auf das lebende Vorbild
seiner Tronie getan hatte.
Die Konfrontation mit dem Abbild eines mensch-
lichen Gegenüber wurde im 17. Jahrhundert als Mög-
lichkeit verstanden, sich mit den eigenen Schwächen
und Qualitäten auseinanderzusetzen. Hierauf lässt
nicht nur die bereits erörterte Position schließen, die
in kunsttheoretischen und biographischen Schriften
hinsichtlich der Aufgaben der Porträts bedeutender
Persönlichkeiten vertreten wird. Auch physiogno-
mische Traktate verfolgen das Ziel, beim Betrach-
ter durch die Anregung zur Beschäftigung mit den
unterschiedlichen Erscheinungsweisen des mensch-
lichen Gesichts einen Reflexionsprozess über die ei-
gene Person auszulösen. So weist z.B. Della Porta
explizit darauf hin, dass der Mensch nicht nur die
Physiognomie anderer, sondern auch die äußeren
Merkmale des eigenen Gesichts deuten solle:105
»Unsere Wissenschaft [die Physiognomik] wird nicht nur für den
Anblick anderer, sondern auch unser selbst von größtem Vorteil
sein können, sodaß wir gleichsam unsere eigenen Deuter werden.
Und so finden wir in alten Schriften erwähnt, der Philosoph Sokrates
habe einen Spiegel als Erziehungsmittel gebraucht. Auch Seneca
überliefert dieselbe Lehre, der Mensch solle sich selbst ansehen,
denn so komme er zu Selbsterkenntnis und eigener Einsicht.«106
Diese Passage kann dahingehend ausgelegt wer-
den, dass das Angebot zum Studium der Ge-
sichter und des Charakters anderer immer auch
die Aufforderung an den Betrachter beinhaltete,
die eigenen äußeren und inneren Anlagen und das
daraus resultierende Handeln zu reflektieren. Las-
se das eigene Aussehen nicht auf Tugenden schlie-
ßen, so fährt Della Porta im Anschluss fort, solle
man dies als Anstoß zur Charakterbildung und
-Verbesserung nehmen. Dass »die Triebe und Lei-
denschaften der Seele, Wehleidigkeit, Jähzorn, Neid
usw. [...] auch bei ungünstiger Körperbeschaffen-
heit zu veredeln«107 seien, belegt der Autor mit dem

Verweis auf eine auch in der Kunsttheorie des 17.
Jahrhunderts geläufige Anekdote aus dem Leben
des Sokrates.108 Dieser habe die schlechten Veranla-
gungen, auf die sein hässliches Äußeres schließen lasse,
durch Willensstärke unterdrückt und sich für einen tu-
gendhaften Lebenswandel entschieden. Der auch von
van Goeree vertretene Gedanke, dass negative Anlagen
durch Einsicht und Anstrengung sittlich umgeformt
und verbessert werden können, nimmt der Lehre der
Physiognomik zumindest einen Teil ihrer Unausweich-
lichkeit und beinhaltet eine gewisse Einschränkung der
Prämisse, dass ein unattraktives Äußeres stets mit las-
terhaften Eigenschaften einhergehen müsse.109
Unabhängig davon, in welcher Weise der Besit-
zer einer Tronie das Wesen, den Charakter oder den
affektiven Ausdruck der dargestellten Figur inter-
pretierte, besaßen die Werke das Potential, durch
die Konfrontation des Betrachters mit einem in
seiner Einzigartigkeit und Besonderheit eindring-
lich erfassten Individuum einen Reflexionsprozess
auszulösen, welcher nicht zuletzt die Person des
Rezipienten selbst betraf. Die visuelle Begegnung
mit dem Gegenüber, dem anderen - nicht selten in
Gestalt einer exotischen oder fremdländischen Figur
- enthielt die Aufforderung zur Auseinandersetzung
mit dem eigenen Ich. Diese Auseinandersetzung ist
freilich nicht als psychologische Selbsterkenntnis im
modernen Sinne zu begreifen, sondern spielte sich
im Rahmen der zeitgenössischen Tugendlehre ab,
die vorgab, welche Eigenschaften eine Person ihrem
Geschlecht, Alter sowie ihrer gesellschaftlichen und
sozialen Stellung nach im Idealfall besitzen sollte.
Nicht nur der dargestellte Figurentyp als solcher,
sondern auch die Deutung des >Charakters< einer Fi-
gur trug zur Entfaltung der erzieherischem Wirkung
von Tronien als positive oder negative exempla. bei.
Dies bedeutet nicht, dass Tronien von jedem Zeit-
genossen in dieser Weise interpretiert worden sind,
doch schlossen sie offensichtlich das Angebot für
eine entsprechende Rezeption ein. In jedem Fall lag
ein besonderer Reiz bei der Betrachtung der Werke
darin, den Wesenszügen eines nach dem Leben ge-
malten Individuums nachzuspüren und dabei die Fä-
higkeit des Künstlers zu überzeugender Charakter-
bzw. Affektdarstellung zu bemessen.

105 Vgl. hierzu auch Wilson 2003, S. 50f.
106 Porta / Rink 1930, S. 25.
107 Porta / Rink 1930, S. 25.

108 Vgl. auch Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 168 (fol. 25v), Str.
34, Bd. 2, S. 501, Nr. VI 34b; Hoogstraten 1678, S. 107, 113.
109 Vgl. Goeree 1682, o.S. [S. 8 der »Voor-reden aan den be-
scheiden Leser«], S. 196.
 
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