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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0375

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Tronien als Demonstrationsstücke künstlerischer Kreativität

347

Auffassung der holländischen Malerei des 17. Jahr-
hunderts alles andere als fremd war: Während der iko-
nographische Gehalt der Bilder zurücktrat, rückte der
Schaffensprozess des Malers und damit dessen krea-
tive Potenz deutlich ins Zentrum des Darstellungsin-
teresses vieler Tronien. Wenn auch die Malerei des 17.
Jahrhunderts an den Gegenstand gebunden und das
Mimesis-Konzept eine ihrer wesentlichen Prämissen
blieb, so kann die Tronieproduktion doch als Beitrag
zu dem in der Renaissance einsetzenden Autonomi-
sierungsprozess der Kunst verstanden werden.
3.3 Lievens’ »Diverse Tronikens« und
das Konzept des Capriccio
Im Zusammenhang mit der Beurteilung von Tro-
nien als Ausdruck künstlerischer Kreativität sollen
abschließend konzeptionelle Gemeinsamkeiten dis-
kutiert werden, die sich zwischen Lievens’ radierten
Tronie-Serien und früheren, dem in der italienischen
Kunsttheorie der Renaissance wurzelnden Konzept
des Capriccio verpflichteten Graphikfolgen ergeben.
Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse können auch
für die Beurteilung der mit gemalten Tronien verbun-
denen künstlerischen Intentionen fruchtbar gemacht
werden.
In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstand
ausgehend von Florenz eine Reihe druckgraphischer
Serien, die Variationen zu einem oder mehreren The-
men enthalten, ohne dass die Blätter inhaltlich und
strukturell unmittelbar aufeinander bezogen wären.88
Im Titel der Folgen drückt sich dies darin aus, dass
die Künstler Bezeichnungen wie Varie Figure Jacques
Callot 1618-20), Diverse figure (nach Annibale Car-
racci 1646) oder auch Capricci di varie Figure (Callot
1617) wählten. Roland Kanz legt dar, dass der von
Callot 1617 erstmals als Titel eines Werkkomplexes
verwandte Begriff >Capriccio< eine ästhetische Kate-
gorie benennt, die in den Graphikfolgen künstlerisch
umgesetzt wird.89

Die Verwendung des Wortes >Capriccio< im Zu-
sammenhang mit Kunstwerken etablierte sich im
Laufe des 16. Jahrhunderts zunächst in Italien. In sei-
ner für die Kunsttheorie besonders zentralen Bedeu-
tung bezeichnet >Capriccio< abgeleitet von >capra<, der
Ziege, »eine Art >Ziegenbocksprung des Geistes<.«90
Autoren wie Giorgio Vasari verbanden den Begriff
mit Werken, deren wesentliche Eigenschaft darin be-
steht, dass sie die Kreativität und Originalität ihres
Schöpfers in gesteigerter Form zur Geltung bringen,
indem sie einen bewunderungswürdigen und als
voraussetzungsloses Novum zu begreifenden, der
Phantasie des Künstlers entsprungenen Einfall ver-
mittels virtuoser Beherrschung der künstlerischen
Mittel vor Augen führen.91 Das Capriccio als solches
ist dabei weder an eine feststehende Themenstellung
noch an eine bestimmte formale oder technische Ge-
staltungsweise gebunden. Auch tritt es in verschie-
denen Bildgattungen und neben Malerei und Graphik
in Skulptur und Architektur auf.
In unserem Kontext interessant ist nun die Be-
obachtung, dass Jan Lievens in den erhaltenen Ti-
telblättern seiner radierten Tronie-Serien offensicht-
lich Bezug auf eben jene Graphikfolgen nimmt, die
der Kategorie des Capriccio zuzuordnen sind. Dies
drückt sich zunächst einmal im Wortlaut der Titel
auf den entsprechenden Blättern aus, der die jewei-
lige Serie als Variae Effigies a Joanne Livio. Lugd.
Bat. und als Diverse Tronikens geetst van EL., Ja-
cobus Chnstianus Excudit ankündigt. Darüber hinaus
erscheint der niederländische Titel in einer Kartu-
schenform, die als Erweiterung des Mundes eines
Fabelwesens mit zwei Füllhörnern zu beiden Seiten
gestaltet ist [Kat. 328, Taf. 70] und damit Reminis-
zenzen an die Kunstform der Groteske enthält. Cap-
riccio und Groteske standen im 16. Jahrhundert in
einem engen »künstlerischen Bedingungsgefüge«92,
und auch die Titelblätter der Graphikfolgen des 17.
Jahrhunderts, so etwa dasjenige von Callots Capricci
di varie Figure [Kat. 76, Abb. 68], spielen noch auf
diesen Zusammenhang an. Selbst wenn bei Lievens

88 Vgl. hierzu sowie zum Folgenden Kanz 2002, S. 245-297.
89 Für Callots Capricci di varie Figure, die 1617 in Florenz
und 1621 in Nancy erschienen, vgl. Lieure 1924/27, Bd. 1,
Nr. 214-263, 428-477. Zu Callots Capricci vgl. auch Busch
1996/97, S. 55-57.
90 Kanz 2002, S. 11. Zur Etymologie des Wortes vgl. ebd., S.

31-36. Allgemein zu Konzept und Funktion des Capriccio vgl.
Hartmann 1973; Kat. Köln / Zürich / Wien 1996/97; Busch
1996/97; Busch 1997; Kanz 2002, dort auch weitere Literatur.
91 Vgl. hierzu Kanz 2002, bes. S. 11-30, 108-146. Vgl. auch
Hofmann 1996/97.
92 Kanz 2002, S. 81.
 
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