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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 4.1916

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IV.1
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Freud, Sigmund: Zeitgemäßes über Krieg und Tod
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https://doi.org/10.11588/diglit.42097#0010
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Sigm. Freud

damit gemeint ist. Man braucht kein Mitleidsschwärmer zu sein,
man kann die biologische und psychologische Notwendigkeit des
Leidens für die Ökonomie des Menschenlebens einsehen und darf
doch den Krieg in seinen Mitteln und Zielen verurteilen und das
Aufhören der Kriege herbeisehnen. Man sagte sich zwar, die Kriege
könnten nicht aufhören, so lange die Völker unter so verschieden^
artigen Existenzbedingungen leben, so lange die Wertungen des
Einzellebens bei ihnen weit auseinandergehen, und so lange die Ge^
hässigkeiten, welche sie trennen, so starke seelische Triebkräfte repräsen-
tieren. Man war also darauf vorbereitet, daß Kriege zwischen den
primitiven und den zivilisierten Völkern, zwischen den Menschen^
rassen, die durch die Hautfarbe voneinander geschieden werden,
ja Kriege mit und unter den wenig entwickelten oder verwilderten
Völkerindividuen Europas die Menschheit noch durch geraume Zeit
in Anspruch nehmen werden. Aber man getraute sich etwas anderes
zu hoffen. Von den großen weltbeherrschenden Nationen weißer
Rasse, denen die Führung des Menschengeschlechtes zugefallen ist,
die man mit der Pflege weltumspannender Interessen beschäftigt
wußte, deren Schöpfungen die technischen Fortschritte in der Beherr^
schung der Natur wie die künstlerischen und wissenschaftlichen
Kulturwerte sind, von diesen Völkern hatte man erwartet, daß sie
es verstehen würden, Mißheiligkeiten und Interessenkonflikte auf
anderem Wege zum Austrag zu bringen. Innerhalb jeder dieser
Nationen waren hohe sittliche Normen für den Einzelnen aufgestellt
worden, nach denen er seine Lebensführung einzurichten hatte, wenn
er an der Kulturgemeinschaff teilnehmen wollte. Diese off überstrengen
Vorschriften forderten viel von ihm, eine ausgiebige Selbstbeschrän-
kung, einen weitgehenden Verzicht auf Triebbefriedigung. Es war
ihm vor allem versagt, sich der außerordentlichen Vorteile zu be-
dienen, die der Gebrauch von Lüge und Betrug im Wettkampf
mit den Nebenmenschen schafft. Der Kulturstaat hielt diese sittlichen
Normen für die Grundlage seines Bestandes, er schritt ernsthaft ein,
wenn man sie anzutasten wagte, erklärte es off für untunlich, sie
auch nur einer Prüfung durch den kritischen Verstand zu unterziehen.
Es war also anzunehmen, daß er sie selbst respektieren wolle und
nichts gegen sie zu unternehmen gedenke, wodurch er der Begrün-
dung seiner eigenen Existenz widersprochen hätte. Endlich konnte
man zwar die Wahrnehmung machen, daß es innerhalb dieser KuL
turnationen gewisse eingesprengte Völkerreste gäbe, die ganz allge-
mein unliebsam wären und darum nur widerwillig, auch nicht im
vollen Umfange, zur Teilnahme an der gemeinsamen Kulturarbeit
zugelassen würden, für die sie sich als genug geeignet erwiesen
hatten. Aber die großen Völker selbst, konnte man meinen, hätten
soviel Verständnis für ihre Gemeinsamkeiten und soviel Toleranz
für ihre Verschiedenheiten erworben, daß »fremd« und »feindlich«
nicht mehr wie noch im klassischen Altertum für sie zu einem Be-
griff verschmelzen durften,
 
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