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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 8.1922

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VIII. 1
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Furrer, Albert: Tagphantasie eines sechseinhalbjährigen Mädchens
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https://doi.org/10.11588/diglit.28550#0101

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Tagphantasie eines sechseinhalbjährigen Mädchens

9!

Den Vater in der Tagphantasie erkennen wir sofort a!s Vater der
Heidi, trägt er doch ein »graues Gewände wie der eigene Vater und der
Onkel Ernst. Der Bursche, der dem Vater das Auge ausgeschlagen hat
wird in Verbindung gebracht mit dem Cousin Ernst. Heidi wollte natürlich
zuerst sagen, der Bursche habe ausgesehen wie Ernst, denn es war ihr
niemand eingefallen als Ernst. Sie sah dann aber gleich ein, daß es kein
Kompliment gewesen wäre für den Cousin, wenn sie ihn verglichen hätte
mit dem bösen Burschen. Da nun der Cousin Ernst das Kind des Onkels
Ernst ist, der ähnlich gekleidet ist wie der eigene Vater, wird uns klar,
daß Heidi mit dem »bösen Burschen^ niemand anders als sich selbst zur
Darstellung gebracht hat. Heidi hätte also dem Vater das Auge ausge-
schlagen. Mit dieser Einsicht ist aber der Sinn dieser Tat um nichts ver-
ständiger geworden, es muß noA ein Mißverständnis vorliegen. Es mußte
uns auffallen, daß Heidi lange Zeit niAt von einem Auge spraA, sondern
stets sagte: »das Auge«, als ob der Vater bloß ein Auge besäße! Wir
werden gut tun daran, dieser an und für siA geringfügigen spraAliAen
»ünkorrektheit« auf den Grund zu gehen. Nehmen wir den Ausdruck:
»das Auge« wörtliA, so dürfen wir niAt an ein Organ von zweien oder
mehreren denken, sondern an ein Organ, das nur einzeln vorhanden ist.
FolgliA fallen die Augen selbst außer BetraAt. Wir haben überdies von
Heidi gehört, daß es siA um das reAte — kann zugleiA heißen: das
richtige — Auge handelt und daß dieses vorher sAon »bösec und blind
war. »Böse<x ist doppelsinnig in der ZürAer Mundart. Das Wort kann den
gleiAen Sinn haben wie das hoAdeutsAe Wort böse, es kann aber auA
bedeuten »krank«. Ein blindes Auge ist zum Sehen untaugliA. Sollen
wir vielieiAt an ein Objekt denken, das durA die Merkmale einzeln,
»böse«, zum Sehen untauglich angedeutet ist? SAließliA wissen wir
aus zahlreiAen Arbeiten von Rank* *, Abraham2, Jung3, Eder*, ReitleH,
FerenczH, daß dem Auge in hohem Grade sexualsymbolisAe Bedeutung
zukommt, und zwar sowohl mit Bezug auf das weibliAe Genitale, was
leiAter verständliA ist, als auA auf das männliAe. Die genannten Autoren
zeigen an Mythen, Sagen, Träumen und neurotisAen Symptomen, daß der
Verlust des Auges sehr oft zur Darstellung des Verlustes des Penis be-
nützt wird, also die Kastration bedeutet. Na Adern wir dies wissen, ver-
mögen wir den verborgenen Sinn der sonderbaren SAlußszene unseres
MärAens zu erkennen. Heidi kastriert ihren Vater. Aber warum? Dies

* Internationaie Zeitschrift für Psychanatyse. 1913. S. 513 ff.
2 Traum und Mythos. 1919. S. 16.
2 Jahrbuch IV. S. 312.
* Internationale Zeitschrift für Psychanalyse. 1913. S. 157.
s Internationale Zeitschrift für Psychanalyse. 1913. S. 159.
s Imago. 1912. S. 276ff. und Internationale Zeitschrift für Psychana-
lyse. 1912.
 
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