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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 8.1922

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VIII. 2
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Kinkel, Johann: Zur Frage der psychologischen Grundlagen und des Ursprungs der Religion, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.28550#0251

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Zur Frage der psychologischen Grundlagen und des Ursprungs der Religion 241

Jedoch gi!t dasjenige, was ein Gesetz für die Sozialpsycho-
logie bildet, das Nichtzurü&kehren zu den überlebten Formen
der Psychologie, nicht in gleichem Maße auch für die Psychologie
der Einzelindividuen. Das Überleben einer Form der Psy&ologie
und der Übergang zu neuen, höheren und vollkommeneren bildet
einen langsamen, ganze Jahrhunderte dauernden Geistesprozeß in
der menschti&en Gesellschaft. In der Übergangszeit, wenn die
neue Psychologie noch schwach und unbeständig ist, werden einzelne
Individuen bei komplizierten seelischen Konflikten, die keine er-
wünschte Lösung in der neuen Form der Psychologie finden
können, zu den alten infantilen Formen des Denkens und Fühlens,
die eine primitive Lösung und Befriedigung ergeben*, zurückkehren.
Selbstverständlich sind solche Einzelfälle im Sinne der Rüdekehr
zur Religionspsychologie auch heute noch genug zahlreich. Ich ver-
wies oben nur auf die am meisten typis&en Fälle, wohl wissend,
daß es außer diesen noch viele andere gibt, deren psychologischer
Mechanismus jedoch derselbe ist. Es gibt außerdem auch viele
sehr intelligente Leute, darunter Gelehrte, die doch in ihrer Psycho^
logie den Religionsinfantilismus bewahren. All das beweist ledige
lieh, daß diejenige Psychologie, die in der Menschenseele ganze
Jahrtausende geherrscht, dort noch sehr viele und starke Rudimente
hinterlassen hat. Keiner von uns, auch unter den am meisten
rationalistisch gestimmten Geistern, ist davor bewahrt, bei einem
starken Seelenkonflikt oder Trauma zum Religionsinfantilismus
zurü&zukehren. Bei aller Macht unserer Vernunft sind wir doA
ohnmächtig gegen die großen Gesetze der Psychologie, die in den
Tiefen unserer Seele verborgen sind und unseren Geist von dort
regieren. Wir können sie zwar begreifen und feststellen, aber nicht
ganz beherrschen.
t Sehr bezeichnend ist in dieser Beziehung die intensive Frömmigkeit und
Betsucht der russischen gebildeten Emigrantenkreise, in denen gewissermaßen
ihr Bewußtsein über das Verzweifelte ihrer Lage in Anbetracht der soziaien
und psychoiogischen Umwäizungen bei dem Volke in ihrem Vaterland zum
Vorschein kommt. Nicht minder bezeichnend im Sinne der Regression ist das
s-Suchen na& einer neuen Religiona in einigen sozialistischen Kreisen des ver-
zweifeften und tieFmißgestimmten deutschen Voikes. Das scheint für die Sozial-
psychotogie unserer Zeit noch eine recht häufige Erscheinung zu sein. Ist man
in der Wirklichkeit stark enttäuscht, so macht man si& auf den Weg zum
Suchen nach einem neuen Gott. — Quo vadis, sapientia?

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