WELCHEN WERT HAT DAS STUDIUM DER PÄDA-
GOGIK UND BESONDERS DER GESCHICHTE SEINES
FACHES FÜR DEN ZEICHENLEHRER?
Von TH. WUNDERLICH-BERLIN.
Motto: „Die Vorwelt ist der Zukunft Spiegel,
die Zeit empfängt in diesem Siegel
die Weihe der Unsterblichkeit."
F. Schlegel.
Die eingehende Beantwortung dieser Frage dürfte im ersten Augenblicke manchem
recht überflüssig erscheinen, denn es sollte eigentlich selbstverständlich sein,
daß jeder Zeichenlehrer mit der Geschichte seines Faches ebenso vertraut ist, wie
mit derjenigen der Pädagogik überhaupt. Die Zeichenliteratur der Jüngstzeit und
die Fachpresse lassen indessen gegenteilige Annahmen gerechtfertigt erscheinen.
Die Entwicklung des Zeichenunterrichts seit dem Jahre 1900 hat sich unter dem
Einflüsse der von der Gunst der Zeit getragenen Bewegung der „künstlerischen
Erziehung der Jugend" vollzogen. Diese prägte das in den Fachkreisen sehr will-
kommene Schlagwort „künstlerischer Zeichenunterricht". Solange dieser Schlager
innerhalb der Lehrerschaft lebendig blieb, richtete er nicht viel Unheil an. Das
geschah aber, als Männer, welche die Entwicklung des Zeichenunterrichts in neuerer
Zeit nicht kannten und der Schule überhaupt fern standen, sich desselben als eines
bequemen Urteils bemächtigten, um dem Schulzeichenunterrichte der letzten beiden
Jahrzehnte jeglichen Wert abzusprechen. Und so treibt das verführerisch klingende,
die Schüler leicht hochmütig machende, gediegene Schularbeit in Mißkredit brin-
gende und wirkliche künstlerische Tätigkeit herabsetzende Schlagwort seit Anfang
dieses Jahrhunderts sein Wesen in der pädagogischen Literatur. Die Konsequenzen,
welche die Zeichenlehrer mit.Recht in bezug auf Titel und Rangverhältnisse aus
der Erhebung des Schulzeichenunterrichts zum „künstlerischen" ziehen, werden
von dem Schulbureaukratismus, der zwar mit Stolz auf den „neuen" Zeichenunter-
richt blickt, nicht für berechtigt anerkannt.
Leider hat die Bezeichnung „künstlerischer Zeichenunterricht" einzelne Fach-
männer verlockt, allem, was im Zeichnen nach schulgemäßem Betriebe aussieht,
verächtlich den Rücken zu kehren und der Methodik und Pädagogik als einer die
künstlerischen Interessen des Zeichnens schädigenden Beigabe, welche die naive
Freude am Spiel der Formen und Farben untergräbt, eine unbeeinflußte Auffassung
der malerischen Reize der Gebilde nicht zuläßt, zu grollen. Die „Kuckucksrufe"
im Kunstgarten 1) und ebenso die Vorwürfe der „schulmeisterlichen Pedanterie"
und des „Verschulmeisterns der hohen Kunst des Flächendekorierens", welche von
dem Hauptträger der sogenannten „neuen Methode" in Preußen erhoben worden
sind, sprechen dafür.
Die Geringschätzung des Methodischen im Zeichenunterrichte allgemein bildender
Schulen ist jedoch nicht ausschließlich das Ergebnis der erwähnten Bewegung zur
Förderung der Kunst in der Schule, für welche Muther das Wort „Kunstrummel"
münzte. Allein in dem ausgedehnten Maße wie heute ist die Hintenansetzung der
1) Vergl. Sachs, Pädagogik und künstlerischer Zeichenunterricht. Die Kreide.
Jg. 1905. Nr. 9. S. 173—176.
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