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E. Maaß, Pannychis.

schreiben und als zeitlichen Genetiv aufzufassen, wie ihn schon die Ilias (V $2ß)
in »während der Windstille« kennt, wie ihn Aristophanes in opoupok »auf
Wache«, wie ihn andere in aMpex?, voxA? sxacr/jq ßa&so? opßpoo anwenden. Die Erz-
gruppe stellte nach Tatian die Schwängerung eines Mädchens »während einer
Pannychis« dar.
Nicht sogleich wird in Tatians summarischem Bericht jedem klar sein, wie
in der Gruppe das Zeitmoment der Nachtfeier zur Anschauung gebracht war. Es
gibt kein besseres und auch kein anderes Mittel als die Personifikation, die Höre
der Pannychis. Wie die Person der Nacht als eine Matrone im Schleier erscheint,
wie die Jahres- und Tageszeiten alle und auch gewisse Feste: warum nicht so auch
die Nachtfeier als solche? In unserm Denkmälervorrat ist die Gestalt ja auch nicht
so ganz unbekannt, Havvoyk als Gefährtin und Dienerin der Aphrodite ist auf einer
oben S. 89 h von Gerhard zitierten Neapler Vase (Heydemann, Nr. 316) zu sehen; auch
als Genossin des Dionysos bietet sie die Vasenmalerei. In beiden Fällen dient die
Figur zur Bestimmung der Nachtzeit und zugleich des festlichen Charakters derselben.
ß. Die Hauptsache ist: wie sollen wir uns den Vorgang im Bilde denken
»ein Mädchen von einem Verführer vergewaltigt, so daß sie empfängt«? Das ist
bei Tatians Art so schwierig nicht. Wir haben anzunehmen, daß Tatian aus seiner
Kenntnis der dargestellten Geschichte die Folgen der Vergewaltigung selbst frei
hinzugesetzt hat, während die Erzgruppe des Euthykrates nur die Vergewaltigung
darstellte und darstellen konnte; die »Vergewaltigung« natürlich nicht als Symplegma.
»Der Künstler, und überhaupt der Phantasiemensch, hat so seine diabolischen
Stunden; wir werden kein Minos-Gericht darüber halten, wenn ihn der Teufel einmal
reitet, wüsten Einfällen auch Gestalt zu geben. Man kennt gewisse Blätter von
bedeutenden Künstlern, die wurden dann aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt,
und wenn je, so wurden sie nicht in Werke großen Inhalts, in unsterbliche Werke
gesteckt.« So Fr. Vischer Goethes Faust; neue Beiträge zur Kritik des Gedichts,
187$, S. 60 und S. iß/ f. »Gerade der echt antiken Kunst ist das Schamgefühl eigen,
die ja mit strenger Keuschheit unterscheidet, in welchem Zusammenhänge das Sinn-
liche sich frei bewegen darf, in welchem es von der Würde gebunden sein muß.«
Die große griechische Kunst besudelt sich nicht, sie vermeidet sorgfältig alles sinn-
lich Gräßliche. Ist dergleichen nicht zu umgehen, so wissen wir seit Lessing, daß
der rechte Künstler dem Dichter nicht bis zu dem höchsten Punkt des Affektes,
dem äußersten Gipfel des Anstößigen oder Schrecklichen folgt und folgen darf,
sondern einen vorausliegenden Moment der Handlung wählt und wählen muß, weil
das Schreckliche gesehen anders wirkt als gehört oder gelesen. Ein Philostratos
mochte gräßliche Handlungen aus erfundenen Gemälden beschreiben und künstle-
rische Forderungen stellen, wie sie dann und wann etwa auf etruskischen Denkmälern
als Monstra verwirklicht erscheinen: griechisch ist diese Art darum noch nicht.
Erotische Gewaltsamkeiten werden in dieser Sphäre der Kunst auf einen früheren
Moment der Handlung datiert. »Zeus, die Aigina vergewaltigend, so daß sie den
Aiakos empfing«, mochte vielleicht ein Tatian aus sich ergänzend das olympische
 
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