KRETISCH-MYKENISCHE STUDIEN I
DIE KRETISCFIE RAUMDARSTELLUNG
Die ältesten Reste figürlicher Wandmalerei in Kreta stammen aus dem Ende
der II. mittelminoischen Periode *)■ Ob es vorher schon eine solche gegeben hat,
muß dahingestellt bleiben. Für ausgeschlossen halte ich es nicht, da die Plastik seit
neolithischer Zeit vorhanden ist und auch die Glyptik schon in frühminoischer Zeit
figürliche Darstellungen aufweist 2). Die fast vollkommene Abstinenz von der mensch-
lichen Figur, die die Keramik übt, beruht darauf, daß sie bei ihrem Dekorations-
prinzip : die Gewölbtheit des Gefäßes durch Überspannen mit Ornamentik nach allen
Richtungen hin auszudrücken, die mehr isolierende, sich selbst zusammenhaltende
und wegen der senkrechten Hauptrichtung tektonisierende menschliche Figur nicht
brauchen kann 3).
Auf dem von Evans, Palace of Minos I 120 Abb. 89 b abgebildeten Siegel
(Abb. 1) aus der III. frühminoischen Periode sind zwei Schiffe übereinander dar-
gestellt. Sie erscheinen dem Beschauer nicht in tiefenräumlicher Beziehung zu ein-
ander; das obere wirkt nicht als entfernter vom Beschauer befindlich; sie liegen viel-
mehr beide auf der neutralen Bildfläche; diese erscheint dem Beschauer parallel,
nicht von unten nach oben zu geneigt, so daß der obere Teil etwa weiter zurückläge.
Μ. E. ist es in dieser frühen Zeit auch ausgeschlossen, daß der kretische Verfertiger
eine tiefenräumliche Beziehung zwischen den Schiffen habe darstellen wollen. Viel-
mehr hat er nur das gegebene Rund füllen wollen; das gegenständliche Motiv der
Abb. i.
Frühminoi-
sches Siegel.
Schiffe allein genügt ihm; die Möglichkeit
einer Raumdarstellung kam ihm gar nicht
in den Sinn.
Die gleiche Darstellungsart zeigt das
leider nicht vollständige Siegel aus der Tho-
los von Hagia Triada mit Tieren (Abb. 2
= Mem. Ist. Lomb. cl. lett. sc. mor. XXI
Taf. XI, Abb. 25 = Evans a. a. 0. 120,
Abb. 2. Siegel aus Hagia Triada.
9 Palace of Minos I 265; diese Datierung des
»saffron-gatherer« wird von Rodenwaldt, D. Fries
d. Megarons v. Mykenai 63 Anm. 22 bestritten.
'-) Evans a. a. 0. 45 ff., 68 f., 94L, 117 ff.
3) K. Müller zählt J. d. I. 30, 1915, 281 die
wenigen Beispiele menschlicher Figuren auf Vasen
auf, ein Beispiel aus Palaikastro ist inzwischen
veröffentlicht: Bosanquet-Dawkins, The unpubl.
objects f. t. Palaikastro Excavations. B. S. A.
Suppl. Pap. I Taf. V A; K. Müller fordert mit
Recht eine Untersuchung über das Verhältnis
der Ornamentik zum Gefäß. Eine andere Er-
klärung für das Fehlen der menschlichen Figur
gibt Buschor, Griech. Vasenmalerei2 21.
DIE KRETISCFIE RAUMDARSTELLUNG
Die ältesten Reste figürlicher Wandmalerei in Kreta stammen aus dem Ende
der II. mittelminoischen Periode *)■ Ob es vorher schon eine solche gegeben hat,
muß dahingestellt bleiben. Für ausgeschlossen halte ich es nicht, da die Plastik seit
neolithischer Zeit vorhanden ist und auch die Glyptik schon in frühminoischer Zeit
figürliche Darstellungen aufweist 2). Die fast vollkommene Abstinenz von der mensch-
lichen Figur, die die Keramik übt, beruht darauf, daß sie bei ihrem Dekorations-
prinzip : die Gewölbtheit des Gefäßes durch Überspannen mit Ornamentik nach allen
Richtungen hin auszudrücken, die mehr isolierende, sich selbst zusammenhaltende
und wegen der senkrechten Hauptrichtung tektonisierende menschliche Figur nicht
brauchen kann 3).
Auf dem von Evans, Palace of Minos I 120 Abb. 89 b abgebildeten Siegel
(Abb. 1) aus der III. frühminoischen Periode sind zwei Schiffe übereinander dar-
gestellt. Sie erscheinen dem Beschauer nicht in tiefenräumlicher Beziehung zu ein-
ander; das obere wirkt nicht als entfernter vom Beschauer befindlich; sie liegen viel-
mehr beide auf der neutralen Bildfläche; diese erscheint dem Beschauer parallel,
nicht von unten nach oben zu geneigt, so daß der obere Teil etwa weiter zurückläge.
Μ. E. ist es in dieser frühen Zeit auch ausgeschlossen, daß der kretische Verfertiger
eine tiefenräumliche Beziehung zwischen den Schiffen habe darstellen wollen. Viel-
mehr hat er nur das gegebene Rund füllen wollen; das gegenständliche Motiv der
Abb. i.
Frühminoi-
sches Siegel.
Schiffe allein genügt ihm; die Möglichkeit
einer Raumdarstellung kam ihm gar nicht
in den Sinn.
Die gleiche Darstellungsart zeigt das
leider nicht vollständige Siegel aus der Tho-
los von Hagia Triada mit Tieren (Abb. 2
= Mem. Ist. Lomb. cl. lett. sc. mor. XXI
Taf. XI, Abb. 25 = Evans a. a. 0. 120,
Abb. 2. Siegel aus Hagia Triada.
9 Palace of Minos I 265; diese Datierung des
»saffron-gatherer« wird von Rodenwaldt, D. Fries
d. Megarons v. Mykenai 63 Anm. 22 bestritten.
'-) Evans a. a. 0. 45 ff., 68 f., 94L, 117 ff.
3) K. Müller zählt J. d. I. 30, 1915, 281 die
wenigen Beispiele menschlicher Figuren auf Vasen
auf, ein Beispiel aus Palaikastro ist inzwischen
veröffentlicht: Bosanquet-Dawkins, The unpubl.
objects f. t. Palaikastro Excavations. B. S. A.
Suppl. Pap. I Taf. V A; K. Müller fordert mit
Recht eine Untersuchung über das Verhältnis
der Ornamentik zum Gefäß. Eine andere Er-
klärung für das Fehlen der menschlichen Figur
gibt Buschor, Griech. Vasenmalerei2 21.