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Deutsches Archäologisches Institut [Editor]; Archäologisches Institut des Deutschen Reiches [Editor]
Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts: JdI — 40.1925(1926)

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Müller, Valentin Kurt: Kretisch-mykenische Studien, 1: Die kretische Raumdarstellung
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https://doi.org/10.11588/diglit.44818#0101
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Kretisch-mykenische Studien I

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Vafiobecher ausgesprochenen Satz: Die Bildfläche ist die Agitationsfläche der
Figuren, dasselbe.
Auf dem Siegel aus Platanos ist das eine Bein des Mannes etwas kürzer als das
andere; ich glaube nicht auf Widerspruch zu stoßen, wenn ich als alleinige Ursache
Platzmangel angebe, denn an perspektivische Verkürzung ist in dieser frühen Zeit
nicht zu denken. Parallelen für die Verkürzung eines Beines finden sich öfter in primi-
tiver Zeichnungsweise. Besonders lehrreich ist ein hethitischer Siegelzylinder, der
in der Rev. d’Assyriologie XIII 1916, 14 Taf. III, Nr. 24 veröffentlicht ist (Abb. 4).
Bei dem Gott bildet der Mantel um den Unterkörper eine weite Röhre, so daß die
Füße genügend Platz haben, auf gleichem Niveau nebeneinander zu stehen; anders ist
es bei den weiblichen Figuren; da sie nackt sind, werden nach orientalischer Ge-
pflogenheit, um die Hüften durch die Zuspitzung der Beine um so breiter erscheinen
zu lassen, die Beine ganz dicht nebeneinander gestellt; der eine Fuß kann dann aber
die Bodenlinie nicht erreichen, ohne verdeckt zu werden; soll dies vermieden werden,
so muß er über dem anderen gegeben, also verkürzt werden. Wieder ist Platzmangel,
nicht Perspektive der Grund. Um die weite Verbreitung dieser Darstellungsart aufzu-
zeigen, nenne ich noch als Beispiele die Oedenburger Urne Hoernes, Urgeschichte d.
bild. Kunst 2 197 Nr. 5 und den islamischen Teller Pezard, Ceramique archaique de
l’Islam Taf. 58.
Auch auf den beiden »early prism seals« Evans, Scripta Minoa 132 Abb. 70 a
und 71 a sind die zurückgestellten Beine der Männer verkürzt, wieder aus
Platzmangel, denn sie stoßen an den Rand. Da ohne Not die Beine etwas weniger
ausschreitend und damit länger hätten gebildet werden können, wird bewiesen, daß
auf gleiche Länge kein Wert gelegt wird; vielmehr wird durch die ungleichmäßige
Länge und das starke Ausschreiten der Eindruck der Bewegung gesteigert. Dies ist
aber das Hauptziel aller kretischen Kunst. Darum fehlt auch die Angabe einer Stand-
linie : die Figur sollte keine feste Bindung erhalten; frei ist sie in die Bildfläche gestellt.
Das Siegel Evans, P. of Μ. 124 Abb. 93 A, Nr. b 3 (Abb. 5)
zeigt neben einem Manne drei Gefäße, die in Seitenansicht über-
einander gesetzt sind. In natura sind sie nebeneinander auf dem-
selben Boden mit dem Manne zu denken. Der Künstler hat sie
nun aber nicht in einer zum Beschauer senkrechten Tiefenlinie
hintereinander stehend gedacht, also das unterste am nächsten
einem Beobachter 2) eines derartigen Natureindruckes, d. i. neben
den Füßen des Mannes, das oberste weiter entfernt, denn der Mann
greift ja gerade nach den beiden oberen Gefäßen, so daß diese in
natura unmittelbar vor ihm stehen müßten. Vielmehr ist jede tiefenräumliche Beziehung
aus der künstlerischen Konzeption: Mann, der sich mit mehreren Gefäßen zu schaffen
macht, ausgeschaltet. Die Gefäße sind senkrecht im Bilde aufgereiht, weil in wage-
rechter Richtung kein Platz ist; aus demselben Grunde sind es drei; der Mann greift

Abb. 5.
Kretisches Siegel.


9 Ich behalte das Wort Raum für den Tiefenraum a) Ich sage: ein Kunstwerk »beschauen« und ein
vor und sage in betreff der Fläche »Platz«. Naturbild »beobachten«.
 
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