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Jooss, Birgit
Lebende Bilder: körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit — Berlin, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.22768#0026
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Privatpersonen für Privatpersonen aufgeführt, eine Entwicklung, die mit dem komplexen Sach-
verhalt der Privatisierung vieler Aspekte des gesellschaftlichen Lebens zusammenhing.4

Das lebende Bild ist zweifelsohne schon immer ein Verbindungsglied zwischen bilden-
der und darstellender Kunst, deren wechselseitigen Beziehungen bisher immer wieder disku-
tiert wurden. Beide entwickelten sich parallel zueinander und inspirierten sich gegenseitig. Es
läßt sich keine Priorität der einen vor der anderen ermitteln. Es ist müßig, feststellen zu wol-
len, ob geistliche Spiele die Inhalte der bildenden Kunst beeinflußten oder umgekehrt. Festzu-
halten gilt, daß eine gemeinsame Grundlage von Liturgie und öffentlicher Heilsverkündung -
später auch profaner Ausrichtung - vorhanden war, die die Motive in den verschiedenen künst-
lerischen Ausdrucksmöglichkeiten bestimmte.5

Als abgeschlossene Bilder beinhalten Tableaux vivants in jedem Falle einen Begriff vom
Kunstwerk, der - über den Kultbegriff des Mittelalters hinaus - eine neue Wertigkeit' des
Kunststückes und damit eine neue Reflexionsebene voraussetzt, die wohl vor dem 15. Jahr-
hundert kaum vorhanden war. »Ars« im Mittelalter meinte nicht Kunst als ästhetische Erschei-
nung, sondern bezeichnete erlernbares Wissen und Können. Erst im 15. Jahrhundert löste sich
das Staffeleibild aus strengen kirchlichen Bindungen, bildete ein eigenes künstlerisches Medi-
um, eine eigene Gattung der Malerei, und blieb als Kultobjekt nicht die Metapher von Welt im
religiösen Zusammenhang, sondern wurde als Sammelstück zur Metapher von Kunst und
erfuhr eine inhaltliche wie formale Erweiterung im Repertoire.6 Die neugeschaffenen Struk-
turen förderten notwendig die ästhetische »Selbstbewußtwerdung« der Kunst, eine Grund-
voraussetzung für die lebenden Bilder.

Eine Untersuchung über Vorformen der lebenden Bilder in der Antike fehlt bislang.7 Wie
auch in späteren Zeiten bildeten ephemere Feste den entsprechenden Rahmen.8 Ihr Einsatz

4 Nach einer umfassenden Politisierung der Gesellschaft zu Zeiten der Französischen Revolution,
entwickelte sich um 1800 eine scharf abgegrenzte Privatsphäre, die zum »Goldenen Zeitalter des
Privaten« im 19. Jahrhundert führte. Vgl. die grundlegenden Bände »Geschichte des privaten Le-
bens« mit weiterführender Literatur, Bd.3., hrsg. von Aries / Chartier 1991, v.a. S.7-9 und Bd.4.,
hrsg. von Perrot 1992, v.a. S.8. und 19-49. Vgl. Chartier (1990) 1995. Vgl. Habermas (1962) 1990.
Vgl. Sennett (1974) 1991.

5 Die erste grundlegende Untersuchung über die Zusammenhänge von bildender Kunst und geistli-
chem Schauspiel legte Springer 1860 vor. Zur Beziehung zwischen Theater und bildender Kunst im
Mittelalter und in der Renaissance in Italien, vgl. Kernodle 1944 und Pochat 1990. Hier findet sich
ausführliche weiterführende Literatur und kritische Anmerkungen zur bisher vorliegenden Litera-
tur. Vgl. auch Baxandall 1984. S.95, der die Parallelen zwischen geistlichem Schauspiel und Male-
rei sowie den engen Bezug zwischen der Gebärdentypologie in der devotionalen Literatur und den
verschiedenen Varianten in der Malerei im Italien des 15. Jahrhunderts untersucht. Vgl. Gudlaugson
1938. S. 34. Vgl. Müller 1930. S.67-72. Zu den verschiedenen Standpunkten in der Literatur über
die Priorität von Kunst oder Theater mit weiterführender Literatur, vgl. Landvogt 1972. S.27-29.
Vgl. Unterer-Budischowsky 1980.

6 Selbstverständlich gab es schon Reflexionen zur Kunst bereits im Mittelalter, doch vollzog sich ein
Ebenenwandel im 15. Jahrhundert. Zu Überlegungen zur Kunst durch die Humanisten wie Petrarca,
Filippo Villani, Manuel Chrysoloras, Bartolomeo Fazio, Lorenzo Valla oder Alberti, vgl. Baxandall
1971. Zum Wandel der Reflexionsebene, vgl. v.a. Belting 1990. Vgl. Belting. In: Busch 1986.
S.155-57 und S.173. Vgl. grundsätzlich Stoichita 1998.

7 Eine antike Bezeichnung derartiger Bilder ist nicht überliefert, vgl. Hesberg 1989, S.77.

8 Kunsthistoriker und Theaterwissenschaftler scheuten offenbar bislang den Kontakt mit der Archäo-
logie. Lammel schreibt sehr selbstverständlich: »In der europäischen Kultur ist das Stellen leben-
der Bilder vom AItertum bis zur heutigen Zeit nachweisbar. Im antiken Rom war dieses ästhetische
Spiel bekannt, und auch später am Hofe des oströmischen Kaiser Justinian I. (482-565) beliebt.«
Leider nennt er keine Quelle, in der die Existenz lebender Bilder tatsächlich bereits in der Antike

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