Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
A 1

t

238


Schreiben des Barons von Slrndelwitz an den Baron
von Prudetmih.
Lieber Baren! Kann und werde mich nun und nimmer mit Ihrem
Standpunct bcsreunden — jamais! Ihr Jubel — pardon, wenn scharfer AuS.
druck verletzen sollte — klingt srivol. ja fast-herzlos. Denken Sie denn
gar nicht an Jammer, der an Silvester legitime Häupter beugen wird, wenn
sich an schöne Vergangenheit erinnern? Voriges Jahr — NeujahrS-Cour,
Ordensfeste. Gratulanten und lovale Danksagungen; dieS Jahr — einsam, in
Verbannung. Condolenten und höchstens Bettelbriefe. Voriges Jahr — ifa-
bcllenhaftes Gewieher, Freude und lustiges Prosit Neujahr; dieS Jahr — Mar«
stall verklopft, Flasche und Kehle verstopft. Schmerzensschrei! — Worin besteht
denn ungeheurer Gewinn, den gemacht haben sollen? — In den eroberten
Ländern haben uns, fürchte ich, ein Preußisches Irland geschaffen, nur mit
dem Unterschied, daß unsre Fenier auö höchsten Kreisen der Gesellschaft. Und
worin besieht Gewinn im Inneren? — Eonflict allerdings scheinbar ge-
schloffen; aber was hätte geschadet, wenn sortgetauert? Theile ganz Ansicht
von Baron Senfst. daß letzte Beschlüffe von Abgeordneten verfaffungSwidrig;
im Uebrigcn ärgere mich sowohl über edlen Sens ft, wie über andre Redner
in Herrenhaus. Wie lahm und zahm Vertheidigung von alte Grundsätze! Wie
schwach Spott auf den DönhosSplatz! Wenn Herr von Kleist sagt, daß Op-
position nachgegeben nach der Melodie: „Ach, du lieber Augustin", so scheint
mir. daß mit noch größerem Recht von Pairs gesagt werden kann: „AlleS ist
weg! DaS Princip ist weg, Stahl ist weg. Autorität liegt im Argen!" Wucher-
gesetze ausgehoben, AnnerionS genehmigt, directeö Wahlrecht, Majorität procla-
mirt — was bleibt da noch übrig? Nächstens sehe kommen, daß (Zivilehe ein-
geführt, LehenSverbände überall ausgehoben, Juden als Richter. Titel und
Orden abgeschafft, Deutsche Grundrechte anerkannt, jeder Bauer zu Staats- und
Militair Carriere berechtigt, Säulen des Staats untergraben! Jetzt z. B. nur
zwei Bürgerliche bei Garde als „ConcessionS-Schultzev" — in nächstes Jahr
vielleicht schon halber Adreßkalender von Schultze'S. Müller, Schmidt und
Meier! Jetzt noch Volksschule, Dien soit lone, auf regulativster Stufe; in
nächste Zeit vielleicht schon Dorfakademien, Bibliotheken für Barfüßler und
Mu'een mit Marmorpuppen. Feigenblättern und Venüffen für Kuhmägde und
Rollknechte! Was soll auS Welt, waö aus Disciplin werden, wenn Bildung
zu Plebs herabgezogen wird? Und daS wird geschehen, sobald Parlament zu
Macht gelangt! Da lobe mir Mecklenburg, wo Dorfschulmeister nur halb so
viel Einkommen wie Tagelöhner, und Stände daraus halten, daß Regierung
nicht in Revolutionsschwindel hineingezogen wird. Reformen in Bezug auf
Oberleitung. Maß, Gewicht u. dgl. bin keineswegs abgeneigt; im Uebrigen
aber wünsche, daß Deutschland zu gesunden, neuen, kräftigen Bundestag zurück-
kehre. Dies mein Standpunkt, und kann wohl sagen der von ganze Partei,
wenn auch nicht o»en auöspricht. Darum kann an verstoffenes Jahr nicht
ohne horreur denken und werde vergeblich versuchen, in Silvesternacht Stimme
des Kummers zu betäuben, obgleich vortreffliches Narcoticum entdeckt — neue
Sorte Sect „Don Juan" — exquisibleS Gewächs, bei dem sich Politik ver-
gcffen läßt. Laffeu wir überhaupt, jo vous eu prie, diplomatisches Gezänk,
und stürzen uns in Gegenwart! Neue Tänzerin Giraud. charmant, aber,
aber — kein Mousseux, vortreffliche Schule, aber zu wenig Leichtsinn. Im
Uebrigen in Berlin jetzt märchenhafte Existenz: Tannenfee, Henne mit goldne
Eier. Prinzessin Tausendschön, Teufelskrallen, Kindergeschichteu, Ministercon-
serenzen-lauter, lauter Märchen! Glücklich, wer daran glaubt; glücklicher
wer darüber noch lachen kann wie
3br
Strudelwiy.

Lii»e brennende Frage.
Das Thor ist fort, die Wache fort,
Vertrieben von deö Fortschritts wüstem Drängen.
Ich aber steh' noch immer dort.
Und zweifelnd frag' ich mich: An welchem Ort
Mag jetzt — der Schlüffe! hängen?
Einer vom Leipziger Platz.

Den Polnischen Damen ist verboten worden, eiserne Kettchen als Garnitur
der Hüte zu tragen. Wir haben uns genau nach dem Grunde dieses seltsamen
Verbotes erkundigt und erfahren, daß die Ketten nur weil sie ausländisches
Product sind, nicht zugelaffen werden sollen. Rußland beansprucht für sich
ausschließlich daS Recht, Ketten für Polen zu schmieden.

Ihre leichte und glückliche Entbindung vom Preußischen Staats-
verband zeigen ergebenst an —
Anschel Rothschild und Familie.

Der Baron voll Prudelwitz an den
Baron von Strudelwitz.

Ober Baron! Wer hätte heut vor Jahr gedacht, wie Silvester 1866 feiern
würden? Wer hätte sich träumen lasten, daß Weltgeschichte in ein Jahr
um ganz Jahrhundert vorwärts gehn kann? Heut vor Jahr — Conflict.
Ga st ein, häuslicher Zwist, politische Bagatell- Proteste, reservirte Haltung.
Rücksichten auf Süd und Nord, Besorgniß vor Ost und West; heut — Haus-
halts-Etat. Nicolsburg, Friede, große Politik, stramme Haltung, Rücklichts
losigkeitl Heut vor Jahr — Bundestag. Jntriguen. tausend Feffeln an Hand
und Fuß; heut — Joch abgeschüttelt. Ränkeschmiede pascholl, Ketten zer-
brochen! WaS vor Jahr nur mit Glacehandschuh ungefaßt, packen jetzt mit
Faust; wo mit Lackstiefel austreten mußten, treten mit Kanonenstiesel auf!
— Kanonenstiefel! Giganteske Idee — auf Hüfte! Wie Welt einst vor Tritt
von Französischen Kanonenstiesel gezittert, so zittert jetzt vor Preußischem. Wäh-
rend früher nur Rad an Europäisches Uhrwerk gewesen, sind heut Feder, Trieb-
kraft. Seele, Modell. Nationen, die unS geäfft, äffen unS nach! Zündspiegel
hat ihnen ganze Jämmerlichkeit von verrottetes System restectirt; wollen unü
jetzt Alles nachmachen: Armee, Wehrpflicht. Pickelhauben, Hinterlader,
Organisation und Reorganisation! Von China und Aegvpten bis Reuß-Gera
militärischer Umschwung. Und waS Hauptsache: früher waren nur Theil von
Deutschland; jetzt aber, wie Twesten sagt, heißt eS: l'.^llemagne c’est nous!
— Wie glücklich, daß Zeit noch erlebt habe! Welch ein Jahr, ober Baron!
Schade, daß am Main und vor Stephanstburm stehen geblieben! Schade, daß
nur balbe Arbeit, ou plutot daß ganze Arbeit, aber nur halber Lohn.
Waren viel zu g^ncreux. Wozu herausgeben, waS schon in Tasche hatten?
Weßhalb zurüctgegangen, wo Fortschritt geboten? Wer hätte gewagt, in
Weg zu treten? Frankreich — hätte wegen Exposition keine Expositions ge-
macht; Englands Regierung mit Iren-Angelegenheiten mehr als genug beschäf.
tigt; Rußland — alte Liebe rostet nicht. So kommt es. daß jetzt fabelbare
Schwierigkeiten, wenn auch Sachsen eigentlich nur Provinz mit erblichen Ober-
Präsidenten. und Hannover und andere annectirte Länder nur Provinzen mit
traditionellen Landrätheu. Aber Widerstand doch sehr unangenehm, besonders
von total verblendete Adelspartei. die noch immer nicht einsehcn will, daß
Preußen für sie eigentliches Paradies. Freue mich, daß Mindener Eisenbahn
so reichlich in Nahrung gesetzt wird; würde gar nicht bedauern, wenn Paar-
Senatoren auö Frankfurt oder Hamburg, oder Paar Nastauische Granden und
Hannoverscher General Transport per Schub nach Festung gebracht würden.
Bester gejürchtet als verspottet, .-ester bewahrt als beklagt. Fürchte, daß auch
Mecklenburg Schwierigkeiten machen und mit unsren Feinden heimlich alliiren
wird; kann sich in neue große Zeit noch nicht finden, will neuen Bund keinen
Zoll nachgeben. Wird aber müssen! Sehe en esset nickst ein, warum
„SouverainetätS-Schwindel" — wie Excellenz sehr richtig bezeichnet — a tont
prix com'erviren sollen. — Experiment mit Parlament halte nicht bloß für un-
verfänglich, sondern erwarte BcßteS, wenn nur entschiedene Männer hinein-
wählen, nur, eher Barön, nicht von sentimental-legitimer Farbe! Werden für
Größe Preußens alles, waö Regierung verlangt, en bloe bewilligen — vous
1c verrez — und ehe neues Jahr um, muß Preußen Kaiserthum sein.
Nehmen denn, eher Baron, herzlichste Felicitations zu neueS Jahr und Kaiser-
wahl, womkt Sie grüße als
Ihr alter Freund en bloe
Prudelwitz.

In Nr. 3-18. der „Kölnischen Blätter" lesen wir eine Empfehlung
des Romans „Verworrene Fäden," von Albany Fonblanque, welche
mit folgenden Worten beginnt:
„Dieser Roman ist nicht von einem katholischen Versaffer
geschrieben, enthält aber weder in religiöser noch in sitt-
licher Beziehung etwas Anstößiges. Es ist einer der
heutigen Tages so seltenen Romane ohne Gift." re. rc.
Indem wir unserem giftfreien protestantischen College» zu der seinen
verworrenen Fäden von Seiten der clericalen Aesthetik zu Theil gewor-
denen Anerkennung gratuliren, können wir nicht Unterlasten, ihm ein lustiges
„Prosit Neujahr!" zuzurufen.
Paul de Kock, Eugen Sue, Alexander DumaS
und die übrigen katholischen Romanciers mit Gift.

Desfentliche Einladung.
Da Hannover und Kurhessen, für deren auS der Zeit des ver-
stostenen Königreichs Westphalen herrührende Schulden Preußen eine
solidarische Verpflichtung übernommen, jetzt von dem Letzteren annectirt sind,
so werden die glücklichen Besitzer Westphälischer Obligationen hierdurch einge-
laden, zu einer näheren Besprechung in der Neujahrönacht um zwölf Uhr
an der Statue des alten Fritz sich möglichst zahlreich einfinden zu wollen.
Ergebenst — 8nnm enigue.

4

9

i
 
Annotationen