140 III. Der Klassizismus in seinem Verhalten zu clen Kulturaufgaben
Wand, die die Stirnseite des Zollhauses bildet, ist durch eine schwach vortretende
Vorlage mit mäßigem Anlauf in drei Teile geteilt. Der Sockel ist gec{uadert,
der Hauptsims im Friese mit Triglyphen versehen, in seiner Höhe zum Ganzen
der Wand bemessen. Die mittlere Vorlage hat zwei seitliche Lisenen, steht unten
auf zwei plumpen dorischen Säulen auf und wird durch ein dreifach gekuppeltes
und ein Halbkreisfenster in zwei Stockwerke geteilt. Die Seitenflügel haben je ein
Fenster. Über der Mittelvorlage steht ein weitausladender Giebel mit Mutulen-
platten, in diesem steckt der Doppeladler. Die Fassade ist in Putz hergestellt.
Sie schlägt mit ihren heroischen Abmessungen die Umgebung tot.
Die Baukunst des zu Ende gehenden Klassizismus um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts begegnete noch einer ganz neuen Aufgabe, dem Bahnhofsbau.
Nur wenige Beispiele vermochte der Klassizismus, dessen Schöpferkraft nahezu
erloschen war, noch zu geben, da grisf schon die Romantik mit romanischen uncl
gotischen Formen ein und drückte der neuen Bauaufgabe ihren Stempel auf.
Und doch hätte sehr wohl gerade der von überflüssigem Formalismus gereinigte
Klassizismus im Verein mit der Eisenkonstruktion gute Werke schaffen können!
Der Genter Bahn-
hof, zum Teil heute
umgebaut, zeigt
eine erfreuliche
Fassadenteilung
durch dorische Pi-
laster und drei-
fach gekuppelte
schmale Fenster;
der Thüringer
B a li n h o f i n
L e i p z i g (1856)
(Abb. 148) macht
mit den beiden, die
viertorige Bahn-
halle flankierenden
Türmen und den
seitlich angrenzen-
den Dienstgebäu-
clen einen kräftig schönen Eindruck, auf den erst wieder neue Lösungen zurück-
kommen, nachdem die Stilwut Gotik, Renaissance und Barock nacheinander ver-
lassen hat. Gerade das stabile Moment, das den klassizistischen Formen innewohnt,
ist besonders geeignet, dem Eisen Aufstand, Gegenkraft und Ruhe zu bieten uncl
in solchem Widerspiel von Form und Richtung, Bewegung und Ruhe das dem
Bahnhofe eigene Gepräge entstehen zu lassen, das diesen charakterisiert. Im
Thüringer Bahnhof zu Leipzig mutet die Reihung der vier Fensterpaare über
den Bogenösfnungen, die sich von einem zum andern Turme zieht, der Horizon-
talismus der Gliederung, der stark und sicher auf die Senkrechten der Türme
aufstößt, durchaus klassizistisch-echt empfunden an. Die Anzahl der Üffnungen
entspricht der der Gleise, dieWahrheit des Aufbaues ist nicht verletzt worden —
allerhöchstens wäre die Schüchternheit zu bemängeln, die die Eisenkonstruktion
nirgends zur Schau kommen ließ, doch hieße dies selbst dem Klassizismus zu-
muten, unklassizistisch zu werden. Genug, daß der Formenreichtum des Klassi-
zismus sich in diesem Beispiel fähig zeigt, am Ende seines Werdeganges eine
neue Aufgabe so zu lösen, daß das Auge vom Anblick tatsächlich befriedigt,
ja erfreut wird.
Wand, die die Stirnseite des Zollhauses bildet, ist durch eine schwach vortretende
Vorlage mit mäßigem Anlauf in drei Teile geteilt. Der Sockel ist gec{uadert,
der Hauptsims im Friese mit Triglyphen versehen, in seiner Höhe zum Ganzen
der Wand bemessen. Die mittlere Vorlage hat zwei seitliche Lisenen, steht unten
auf zwei plumpen dorischen Säulen auf und wird durch ein dreifach gekuppeltes
und ein Halbkreisfenster in zwei Stockwerke geteilt. Die Seitenflügel haben je ein
Fenster. Über der Mittelvorlage steht ein weitausladender Giebel mit Mutulen-
platten, in diesem steckt der Doppeladler. Die Fassade ist in Putz hergestellt.
Sie schlägt mit ihren heroischen Abmessungen die Umgebung tot.
Die Baukunst des zu Ende gehenden Klassizismus um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts begegnete noch einer ganz neuen Aufgabe, dem Bahnhofsbau.
Nur wenige Beispiele vermochte der Klassizismus, dessen Schöpferkraft nahezu
erloschen war, noch zu geben, da grisf schon die Romantik mit romanischen uncl
gotischen Formen ein und drückte der neuen Bauaufgabe ihren Stempel auf.
Und doch hätte sehr wohl gerade der von überflüssigem Formalismus gereinigte
Klassizismus im Verein mit der Eisenkonstruktion gute Werke schaffen können!
Der Genter Bahn-
hof, zum Teil heute
umgebaut, zeigt
eine erfreuliche
Fassadenteilung
durch dorische Pi-
laster und drei-
fach gekuppelte
schmale Fenster;
der Thüringer
B a li n h o f i n
L e i p z i g (1856)
(Abb. 148) macht
mit den beiden, die
viertorige Bahn-
halle flankierenden
Türmen und den
seitlich angrenzen-
den Dienstgebäu-
clen einen kräftig schönen Eindruck, auf den erst wieder neue Lösungen zurück-
kommen, nachdem die Stilwut Gotik, Renaissance und Barock nacheinander ver-
lassen hat. Gerade das stabile Moment, das den klassizistischen Formen innewohnt,
ist besonders geeignet, dem Eisen Aufstand, Gegenkraft und Ruhe zu bieten uncl
in solchem Widerspiel von Form und Richtung, Bewegung und Ruhe das dem
Bahnhofe eigene Gepräge entstehen zu lassen, das diesen charakterisiert. Im
Thüringer Bahnhof zu Leipzig mutet die Reihung der vier Fensterpaare über
den Bogenösfnungen, die sich von einem zum andern Turme zieht, der Horizon-
talismus der Gliederung, der stark und sicher auf die Senkrechten der Türme
aufstößt, durchaus klassizistisch-echt empfunden an. Die Anzahl der Üffnungen
entspricht der der Gleise, dieWahrheit des Aufbaues ist nicht verletzt worden —
allerhöchstens wäre die Schüchternheit zu bemängeln, die die Eisenkonstruktion
nirgends zur Schau kommen ließ, doch hieße dies selbst dem Klassizismus zu-
muten, unklassizistisch zu werden. Genug, daß der Formenreichtum des Klassi-
zismus sich in diesem Beispiel fähig zeigt, am Ende seines Werdeganges eine
neue Aufgabe so zu lösen, daß das Auge vom Anblick tatsächlich befriedigt,
ja erfreut wird.