Beschauers entziehen. Wenn elnmal die, hoffentlich nicht allzu feme, Zekt ge-
kommen sein wird, wo die glorreichen, nie übertroffenen Schöpfungcn unse-
rer Vorfahren in allen ihren Einzelheiten so genau durchfocscht, ge-
zeichnet, gemeffen und erklärt sein werden, wie dies mil den Ueberresten aus
der vorchristlichen Zeit bereits der Fall ist, so wird unzweifelhaft daS zuvoc
Gesagte stch bis zuc Evidenz hecausstellen. DieGeschichte derchristli-
chen Architektur ist kcineSweges vo rzugsw ei se aus gcschriebe-
nen Urkundcn, sondern vielmehr zunächst und hauptsächlich
aus den Monumenten selbst zu ermittcln und festzustelleu.
Wer mit Herrn B. dieser Anstcht nicht beitreten will, wird jedenfalls aus
eine kritische Geschichte, wo nicht überhaupt auf jede Gcschichte der gothischen
Architcklur für immer Vcczicht leisten müffen.
Unter der Rubrik „factische Gründe" bespcichk Herr B. solche von
mir gelteud gemachte Grüude, wclche, wie er sagt, „nicht sowobl in Urthei-
l en" meinerseits, als vielmehr „in Anführung derjenigen einzelnen Merk-
male bestehen sollen, aus welchen die spärere Entstehungszeik einzelner Theile
des Domes, namcntlich des Thurmbaues, erstchrlich sein soll". Jch muß nun
zuvöcdecst gestehen, daß mic daS Pcincip dicscs Eincheilungsgrundes nicht
einleuchcen will. Es scheint mir nämlich hier wie üdecall Allcs auf das U r-
theil anzukommen, auf den Schluß, welchen man aus den Tbatsachen
ziehen kann oder ziehen zu können glaubt. Was nutzt es z. B., ob wir übcr
das Bestehen dieses oder jenes Architekcurgliedes einig sind, wenn wir, wie
solches hier wirklich der Fall ist, in dem Schlusfe aus einander gehen, zu
wclchcm diese Thatsachr hinsichtlich dec Enrstehimgszeit des betreffendcn Glie-
des berechtigen soll? Herr B. glaubt ein groß.s Gewicht darauf leqen zu
können, daß außer den geblendeten Fenstern zuc Scite der Thürme auch noch
andecwärts, insbesondere an den Thürmen seldst, solche vorkommen. Jch habe
hierauf erstenS zu bemerken, daß diese letztere Blendung durch die Thurm-
treppe, also durch ein besondcres, zufälliges Bedürfniß herbeigeführt erscheinr,
und sodann ferner, daß ich überhaupt die fragliche Thatsache zunächft nüt
Bezug auf das von mir bchauptece A b st a m mungsverhältni ß zwischen
den K athedralcn vonKöln und Amiens hcrvorgshoben harte, indem
es mir von Bedeutung schien, daß die entsprechenden Fenster in der Kathe-
dralc von Amiens nicht gcblendec sind. Da eine solche theilweise A.nortisi-
rung eines Fensters gewiß nicht anders, denn als einc Unvollkommenheic an-
gesehen werden kann, so schien mir der Schluß ziemlich nahe zu liegen, daß
in dem ersten Plane zum kölnec Dome, deffen Thurmsyflem ohne Zweisel
eben so wie der übrige Bau, der Kathedrale von Amiens nachgebildet war,
jene Unvollkommenheit sich nicht vorfand und daß diesclbe crst in Folgc dcr
späte renForcbildungund größeren räumlichen Ausdchnunq dec Thurm-Anlage
stch einstellte. Jn Betreff derjenigen Folgerung, welche ich aus der Gestalt
des kölner Thurmes und insbesondere der Bildung seiner Gliederungen und
Ornamenre herqeleiket habe, muß ich zunächst wied.c auf das zu der blö-
mer'schen Rubrik: „Gründe des Geschmackes", Gesagte verweisen, in lhat-
säcklicher Bezichung aber bemerken, daß Herr Blömer vhnc Grund mich ei-
nes Zrrthumes zcihr, wenn ich inNr. 16 d. Bl. gesagt habe, „daß die Glie-
derunßcn sämmklicher amTburmevorkommcnder Gewölberippen gleichförmig
von der Spitze bis zum Fuße der bckreffenden Bogenstellunq fortlaufen". Die
Thatsachc, welche Hr. B. gegen dicse Aufstellung ansührt und die aller-
dings soft rt ins Auge fällt, becührt dieselbe nicht, da sie auf dic Fensteipso-
sten und nichc auf die eigentlichen Gewölberippcn Bezuq hat. Jch will mlt
Hrn. B. darüber weiter nichc rechten, od das Thurmglledecwerk in jeder Bet
zrehunq ein Muster von Schönheit und Zweckmäßigkeit sei oder nicht, obgleich
ich allcrdings für meinen Theil nach wie vor die Anstcht hege, daß ein Herun-
terzlehen der Bogenrippen bis zum Fuße der Pfeiler yder Gewandungen eine
Verkennung und Vermischung dec verschiedenarligen Besiimmungen und.
Funclionen ihrer Natur nach sclbstständigcr Architekturglieder in stch schließe
Worauf es hier allein ankommt, ist die Frage. ob die in Rede stehenden
Bildungen fi'ch als solchc charaktcrisireii, welche cin über das I3.Jahr-
hunderthinausgcrücktesEntwickelungsstadiumdesgo^thischen
Baustyles bekunden. Jch habe in di-ser Bezichung auf die «chiffe der
dem 14. Jahrhundect angehörenden aiwverpener Kathedrale hingewicsen, und.
es wäre nun, däucht mich, an dem Hrn. B. gcwesen, seinerseits ein Beispiel
aus dem 13. Jahrhundert zu citiren, wodurch cr zugleich die Geschichte der
Architektur um eine höckst iiitcrcssante Thatsache bereichert habcn würde. BiS
jetzt haben nämlich die Kunsthistorikcr fiels die lraglichc Erschcinung als ein
Svmplom dcs herannahenden Verfalles des gothischen Styles, als ein Her-
übergreisen dcs ornamencalen Elemenkes in das construclive angesehen *).'
Nicht wcniger wärc zu wünschen gewesen, daß Hr. B. in etrra näher>auf
das weiier von mir gclrend gcmachte Factum, daß die erivin'lchc Thurmfti-!
yade zu Straßburg in ihcen Profilirungen weit weniger eiitwickelt und durch-
qebildet crscheink, als die kölner Thurmfayade, cinzugehen sich veranlaßt ge-
funden häkce; aber freilich, in seinen Augcn sind das lediglich Geschmacks-
Sachcn und -Fragen.
Gehen wir nunmehc zu den „Autoritäten" über, die Herr Blömer,
zwei an dec Zahl, schlicßlich noch für sich angerufen hat. Die erste, welche er
cikirt, ist der Verfasser einer im Jahre 1840 in Eoblenz anonym erschienenen
Schrift: „Einiqc Worte über den Dombau zu Köln." Da ich selbst der
Verfasser dieser Schrist bin, so werde ich wohl die beste Auskunft darüber
erthcilen können, welche Bewandtniß es um diese „Autorität" hat. Vor Allem
ist zu bemerken, daß die fragliche Schrift sich nirqendwo specicl und ex i'r»-
k«.-,.,» mit der hier obschwebenden Frage befaßt und daß, wie man wohl schon
bei Durchlesung der von Hrn. B. wörtlich mitgetheilten Stellen wahrge-
nommen haben wird, nur böchstcns indireck, auf dem Wege der Jnduction,
das, was Hr. B. dacin gefundcn hat, sich nothdürftig emnehmcn läßt. Es
«) Dgl. u. A. Kuglcr, Handbuch der Kuustgeschichte, S. 5Z8; caumoat,
»rcliil. rslix. p. 437; vour»«se, srcbdol. ckrei. p. 273; Hoffstadt, gothl-
sches A-B-L, S. S7.
konnte aber auch in der That damals nicht meine Absicht seln, ein förm-
liches Vokum über den vorlicgenden Streitpunct abzugeben. Weder hatte ich
vocher den Dom selbst anders als nur fiüchtig auf Durchreisen in Augen-
schein genommen, noch auch bot die Likeratur irgend Material zu einer um-
sichrigen Prüfung der Frage aus der Ferne dar. Unter diesen Umständen lag
nakürlich nichts näher, als daß ich der zur Zeit von Hrn. B. in Schuh ge-
nvmmenen herkömmlichen Ansichr folgte, zumal diese Ansicht etwas dem Ge-
müthe wie der Phantasie sehr Zusagendes hat. Spätec indcß, als ich während
mehcerer Jahre so zu sagen Tag für Tag den Dom in allen seinen D-iail«
durchforschen konnle und hiedurch, in Vecbindung mit einem näheccn Stu-
dium ähnlicher Denkmälec so wie der Materie überhaupt, der vage Enthu-
siasmus immer mehr der bcsonneneren Ecwägung des Einzelnen in seinem
Zusammenhange und Ucsprunge Platz einräumte, leuchkete mir stets klarer
ein, was deczeit zur fesien lleberzeugung geworden ist. Es hal darum übrigens
mein Jnteresse wie meine Bewunderung für das Werk auch nicht im Gering-
sten abgenommen. Jm Gcgentheile scheint es mir eine viel staunenswerthere
und zuglcich ecmuthigendere Erscheinung zu sein, wenn derselbe lebendige
Kunsttrieb, von Generalion zu Gencration st'ch vererbend, auf dem Grunde
eines allgemeinen, festcn Gesetzes mit bewußker Fceiheit dieses Gesetz ;u
wechselndcr Erscheinung zu bringen vermaq, als wenn dic nachfolgenden Ge-
schlechker gleichsam nur die Werkzeuge sind, die den Gcdanken ihres Maschi-
nenmeisters in geistloser Geschäftigkeic verkörpern oder, um bei dem von Hrn.
B. bcreils mitgetheiltcn Gleichnisse zu bleiben, als „geschlechtlose Arbeitsbie-
nen" das anderwärts Eoncipirie ausführen. Jst ein solcher Dom nicht auch
hierin ein Abbild dcr geisiigen Kirche, die, auf fesie, unerschülterliche Dozmen
gegciindet, von Jahrhundert zu Jahrhundert, ja, zuwiilen wohl von Natron
z i Nation, dem jeweiligen Entwickelungsstadium folgend und allrs Höhere,
was darin liegt, sich assi'milirend, Physiognomie und äußercs Gepcäge in
niemals rastender Metamorphose wechselc? Ganz anders verhält eS sich na-
türlich (und auch die Grschichte der Baukunst liefert uns dazu mehr als Ei-
nen Beleg), sooalS an die SteZe solcher naturgemäßea Evolution dcr Ab-
fall vom Grundgesetze, die Rcvvlution einirict.
Fällt nach dem Vocstehenden die erste von Hrn. V. dezogene Autoritäl
nichis weni'ger als gewich:ig in die Wagschale, so ecschcinr allerdings die
zweite, an sich betracktet, um so bedeutendec: Joseph von Görres.
Wenn irgend ein Lebcnder es vecmag, den gcoßen Baudenkmalen dcS Mit-
telalters in den innecsien Ocganism, so zu sagen ins Herz zu schauen und
das Walten ihces Bildungsqesetzes ;u belauschm, so ist es gewiß Görres,
deffen Genius, wie dieS Menzel beceits so treffend hervorgehoben *), mit dem
der qroßen Dombaumeistec die innigsie Vecwandlschift zeigt. Es darf indeß
nicht übersehcn wecden, daß die Eiitscheidungsgcünde füc d!e uns hier voclie-
gende Fcage msist rein factischec Natur siiid, der Ark, daß mir durch ein
genaucs Sludium an Ort und Stelle dieselbcn ecmitkelt werden konnen. Es
handelt si'ch hiec u:n scheinbar qecingfügige Modalicäcen in dem Detail, den
Maßen, Verhältaiffen, dem Schnitte und Charaktec der Oriiamenie,. der
Vrrbindung der einzclnen Glieder, kurz, um Dinge, tie auch das begableste
Genie so wenig auS si'ch selbsi als aus allgemeinen Mittheilungcn Oritter zu
schöpfen im Stande isi. Nun war es aber bekanntlich seit fast dreißig Jah-
ren dem Hrn. von Görres nicht vergönnt, unserii Dom anders als im
Geiste zu schauen, und weder Aeichnungen noch Literakuc sind vorhanden, uai
für die frhlende persönliche W.ihrnehmung einen Ecsatz zu leisten. Bei so
bewandten Umständen dürfte es wohl mit der gröficen Hochachtung vor der
in Rede stehenden zweiken Autocilät vrreinbar sein, d.n Ausspruch derselbsn
für unsern speciellen Fall als noch dsr R-oision fähig zu ccachien. Ein nähe-
res Eingehen in die görceS'sche Schrift würde übrigens mehc alS Einen Be-
weis liefern, daß die ecwähnten Verhällniffe, insbesondece die fchlende Autopsie,
auch im Uebrigen nicht ohne Einfluß auf die Darsiellung geblieben si'nd.
So wird z. B. Seite 126 aufgestellt,- daß auch die Pfeiler iu den Scicen-
schiffen des Domes nach dem urspcünqlichen Plane mit Standbildern hä'tken
geschmückt werden sollen, während cs nuc Eines BlickeS des Vecfassers in
diese Hallen bedurft hätte, um ihn davon zu überzeugen, daß ausschließlich
dem Mittelschiffe eine solche Aierde bestimmt war, indem bloß hicr Eon-
solen und Baldachine aus den Pfeilecn vorsprinqen **). Aber auch der Fort-
bau deS Domcs selbst hat seit dem Ecscheinen der Schrist dcs Hrn. v. G.
Entdeckungen ans Licht gefördert, wovon si'ch selbst voa den Kundigsien kei-
„Ich kann dcn Aiisdrnck dieses Geistes nur mit dem eines straßburger Mün-
sters oder kölner Domes vergleichcn. Wie man sagt, - daß Wi-ickelmann ein
inwendiger Bilohaner u»d Tieck ein i'nwendiger Schauspieler lel, so könnte
man auch von Görres sagen, er sei ein inwenviger Bannieister. WenigstenS
mahnen uns alle seine Ichristen in ihrem logischen Aufriffe uns in ihrem rei-
chen phantastischen Schmucke beständig an die Kunst Erwin's. Zn allen sei-
nen Werken zeigt sich der Tiefsinn ves gothi'schen FreimaurerS. Alle diese
Werke find ästhetisch nicht andcrS zu betrachten, denn als Kirchen, wunder-
sam durchdachte, vom tiefsten Grunde bis zur p-ramioalischen Spitze vlan»
voll durchgeführte, unerschöpflich reiche Knnstwerke, die sich aber von anrer«
Gebäuden des menschlichen Geistes durch den Ansdruck des Christlichen, He>
ligcn, Kirchlichen, sehr scharf unterscheiven u. s. w." Bgl. W. Menzel: Die
deutsche Literatur, 1. S. 157.
Von weiteren factischen Jrrthümem moge noch hervorgehobcn werden, daß
Hr. v. G. den Prachtriß des straßburger Münsters, wovon auf S. 20 die
Rede ist, von zwei verschiedenen Meistern herrühren läßt, währenv der Auger-
fchein unverkennbar ergibt, daß^derselbe von ciner Hand gezeichnet ist;daß
dagegen die Krppta, von der S. 2Z gehandelt wird, in zwei verschic-
denen Perioden entstanden ist, und zwar der spätere Theil gleichzeitig mit
dem Chore i'm 12. Jahrhundert, welchem auch die Würfel-Caxitäle ange-
hören- Endlich geht Hr. v. G. auf L>. 114 seiner Schrist von ver irrigm
factischen Unterstellung aus, daß fich unter dcm Chore des kölner Domes
eine Krypta befinde. Jch erwähne diese Dinge nur, um ;u zeigen, daß da,
wo es fich zunächst mn daS positiv Gegebene handelt, auch ver allerbe-
deutendsten' Autorität ein blinver Glaube nicht geschenkt werven dars.
kommen sein wird, wo die glorreichen, nie übertroffenen Schöpfungcn unse-
rer Vorfahren in allen ihren Einzelheiten so genau durchfocscht, ge-
zeichnet, gemeffen und erklärt sein werden, wie dies mil den Ueberresten aus
der vorchristlichen Zeit bereits der Fall ist, so wird unzweifelhaft daS zuvoc
Gesagte stch bis zuc Evidenz hecausstellen. DieGeschichte derchristli-
chen Architektur ist kcineSweges vo rzugsw ei se aus gcschriebe-
nen Urkundcn, sondern vielmehr zunächst und hauptsächlich
aus den Monumenten selbst zu ermittcln und festzustelleu.
Wer mit Herrn B. dieser Anstcht nicht beitreten will, wird jedenfalls aus
eine kritische Geschichte, wo nicht überhaupt auf jede Gcschichte der gothischen
Architcklur für immer Vcczicht leisten müffen.
Unter der Rubrik „factische Gründe" bespcichk Herr B. solche von
mir gelteud gemachte Grüude, wclche, wie er sagt, „nicht sowobl in Urthei-
l en" meinerseits, als vielmehr „in Anführung derjenigen einzelnen Merk-
male bestehen sollen, aus welchen die spärere Entstehungszeik einzelner Theile
des Domes, namcntlich des Thurmbaues, erstchrlich sein soll". Jch muß nun
zuvöcdecst gestehen, daß mic daS Pcincip dicscs Eincheilungsgrundes nicht
einleuchcen will. Es scheint mir nämlich hier wie üdecall Allcs auf das U r-
theil anzukommen, auf den Schluß, welchen man aus den Tbatsachen
ziehen kann oder ziehen zu können glaubt. Was nutzt es z. B., ob wir übcr
das Bestehen dieses oder jenes Architekcurgliedes einig sind, wenn wir, wie
solches hier wirklich der Fall ist, in dem Schlusfe aus einander gehen, zu
wclchcm diese Thatsachr hinsichtlich dec Enrstehimgszeit des betreffendcn Glie-
des berechtigen soll? Herr B. glaubt ein groß.s Gewicht darauf leqen zu
können, daß außer den geblendeten Fenstern zuc Scite der Thürme auch noch
andecwärts, insbesondere an den Thürmen seldst, solche vorkommen. Jch habe
hierauf erstenS zu bemerken, daß diese letztere Blendung durch die Thurm-
treppe, also durch ein besondcres, zufälliges Bedürfniß herbeigeführt erscheinr,
und sodann ferner, daß ich überhaupt die fragliche Thatsache zunächft nüt
Bezug auf das von mir bchauptece A b st a m mungsverhältni ß zwischen
den K athedralcn vonKöln und Amiens hcrvorgshoben harte, indem
es mir von Bedeutung schien, daß die entsprechenden Fenster in der Kathe-
dralc von Amiens nicht gcblendec sind. Da eine solche theilweise A.nortisi-
rung eines Fensters gewiß nicht anders, denn als einc Unvollkommenheic an-
gesehen werden kann, so schien mir der Schluß ziemlich nahe zu liegen, daß
in dem ersten Plane zum kölnec Dome, deffen Thurmsyflem ohne Zweisel
eben so wie der übrige Bau, der Kathedrale von Amiens nachgebildet war,
jene Unvollkommenheit sich nicht vorfand und daß diesclbe crst in Folgc dcr
späte renForcbildungund größeren räumlichen Ausdchnunq dec Thurm-Anlage
stch einstellte. Jn Betreff derjenigen Folgerung, welche ich aus der Gestalt
des kölner Thurmes und insbesondere der Bildung seiner Gliederungen und
Ornamenre herqeleiket habe, muß ich zunächst wied.c auf das zu der blö-
mer'schen Rubrik: „Gründe des Geschmackes", Gesagte verweisen, in lhat-
säcklicher Bezichung aber bemerken, daß Herr Blömer vhnc Grund mich ei-
nes Zrrthumes zcihr, wenn ich inNr. 16 d. Bl. gesagt habe, „daß die Glie-
derunßcn sämmklicher amTburmevorkommcnder Gewölberippen gleichförmig
von der Spitze bis zum Fuße der bckreffenden Bogenstellunq fortlaufen". Die
Thatsachc, welche Hr. B. gegen dicse Aufstellung ansührt und die aller-
dings soft rt ins Auge fällt, becührt dieselbe nicht, da sie auf dic Fensteipso-
sten und nichc auf die eigentlichen Gewölberippcn Bezuq hat. Jch will mlt
Hrn. B. darüber weiter nichc rechten, od das Thurmglledecwerk in jeder Bet
zrehunq ein Muster von Schönheit und Zweckmäßigkeit sei oder nicht, obgleich
ich allcrdings für meinen Theil nach wie vor die Anstcht hege, daß ein Herun-
terzlehen der Bogenrippen bis zum Fuße der Pfeiler yder Gewandungen eine
Verkennung und Vermischung dec verschiedenarligen Besiimmungen und.
Funclionen ihrer Natur nach sclbstständigcr Architekturglieder in stch schließe
Worauf es hier allein ankommt, ist die Frage. ob die in Rede stehenden
Bildungen fi'ch als solchc charaktcrisireii, welche cin über das I3.Jahr-
hunderthinausgcrücktesEntwickelungsstadiumdesgo^thischen
Baustyles bekunden. Jch habe in di-ser Bezichung auf die «chiffe der
dem 14. Jahrhundect angehörenden aiwverpener Kathedrale hingewicsen, und.
es wäre nun, däucht mich, an dem Hrn. B. gcwesen, seinerseits ein Beispiel
aus dem 13. Jahrhundert zu citiren, wodurch cr zugleich die Geschichte der
Architektur um eine höckst iiitcrcssante Thatsache bereichert habcn würde. BiS
jetzt haben nämlich die Kunsthistorikcr fiels die lraglichc Erschcinung als ein
Svmplom dcs herannahenden Verfalles des gothischen Styles, als ein Her-
übergreisen dcs ornamencalen Elemenkes in das construclive angesehen *).'
Nicht wcniger wärc zu wünschen gewesen, daß Hr. B. in etrra näher>auf
das weiier von mir gclrend gcmachte Factum, daß die erivin'lchc Thurmfti-!
yade zu Straßburg in ihcen Profilirungen weit weniger eiitwickelt und durch-
qebildet crscheink, als die kölner Thurmfayade, cinzugehen sich veranlaßt ge-
funden häkce; aber freilich, in seinen Augcn sind das lediglich Geschmacks-
Sachcn und -Fragen.
Gehen wir nunmehc zu den „Autoritäten" über, die Herr Blömer,
zwei an dec Zahl, schlicßlich noch für sich angerufen hat. Die erste, welche er
cikirt, ist der Verfasser einer im Jahre 1840 in Eoblenz anonym erschienenen
Schrift: „Einiqc Worte über den Dombau zu Köln." Da ich selbst der
Verfasser dieser Schrist bin, so werde ich wohl die beste Auskunft darüber
erthcilen können, welche Bewandtniß es um diese „Autorität" hat. Vor Allem
ist zu bemerken, daß die fragliche Schrift sich nirqendwo specicl und ex i'r»-
k«.-,.,» mit der hier obschwebenden Frage befaßt und daß, wie man wohl schon
bei Durchlesung der von Hrn. B. wörtlich mitgetheilten Stellen wahrge-
nommen haben wird, nur böchstcns indireck, auf dem Wege der Jnduction,
das, was Hr. B. dacin gefundcn hat, sich nothdürftig emnehmcn läßt. Es
«) Dgl. u. A. Kuglcr, Handbuch der Kuustgeschichte, S. 5Z8; caumoat,
»rcliil. rslix. p. 437; vour»«se, srcbdol. ckrei. p. 273; Hoffstadt, gothl-
sches A-B-L, S. S7.
konnte aber auch in der That damals nicht meine Absicht seln, ein förm-
liches Vokum über den vorlicgenden Streitpunct abzugeben. Weder hatte ich
vocher den Dom selbst anders als nur fiüchtig auf Durchreisen in Augen-
schein genommen, noch auch bot die Likeratur irgend Material zu einer um-
sichrigen Prüfung der Frage aus der Ferne dar. Unter diesen Umständen lag
nakürlich nichts näher, als daß ich der zur Zeit von Hrn. B. in Schuh ge-
nvmmenen herkömmlichen Ansichr folgte, zumal diese Ansicht etwas dem Ge-
müthe wie der Phantasie sehr Zusagendes hat. Spätec indcß, als ich während
mehcerer Jahre so zu sagen Tag für Tag den Dom in allen seinen D-iail«
durchforschen konnle und hiedurch, in Vecbindung mit einem näheccn Stu-
dium ähnlicher Denkmälec so wie der Materie überhaupt, der vage Enthu-
siasmus immer mehr der bcsonneneren Ecwägung des Einzelnen in seinem
Zusammenhange und Ucsprunge Platz einräumte, leuchkete mir stets klarer
ein, was deczeit zur fesien lleberzeugung geworden ist. Es hal darum übrigens
mein Jnteresse wie meine Bewunderung für das Werk auch nicht im Gering-
sten abgenommen. Jm Gcgentheile scheint es mir eine viel staunenswerthere
und zuglcich ecmuthigendere Erscheinung zu sein, wenn derselbe lebendige
Kunsttrieb, von Generalion zu Gencration st'ch vererbend, auf dem Grunde
eines allgemeinen, festcn Gesetzes mit bewußker Fceiheit dieses Gesetz ;u
wechselndcr Erscheinung zu bringen vermaq, als wenn dic nachfolgenden Ge-
schlechker gleichsam nur die Werkzeuge sind, die den Gcdanken ihres Maschi-
nenmeisters in geistloser Geschäftigkeic verkörpern oder, um bei dem von Hrn.
B. bcreils mitgetheiltcn Gleichnisse zu bleiben, als „geschlechtlose Arbeitsbie-
nen" das anderwärts Eoncipirie ausführen. Jst ein solcher Dom nicht auch
hierin ein Abbild dcr geisiigen Kirche, die, auf fesie, unerschülterliche Dozmen
gegciindet, von Jahrhundert zu Jahrhundert, ja, zuwiilen wohl von Natron
z i Nation, dem jeweiligen Entwickelungsstadium folgend und allrs Höhere,
was darin liegt, sich assi'milirend, Physiognomie und äußercs Gepcäge in
niemals rastender Metamorphose wechselc? Ganz anders verhält eS sich na-
türlich (und auch die Grschichte der Baukunst liefert uns dazu mehr als Ei-
nen Beleg), sooalS an die SteZe solcher naturgemäßea Evolution dcr Ab-
fall vom Grundgesetze, die Rcvvlution einirict.
Fällt nach dem Vocstehenden die erste von Hrn. V. dezogene Autoritäl
nichis weni'ger als gewich:ig in die Wagschale, so ecschcinr allerdings die
zweite, an sich betracktet, um so bedeutendec: Joseph von Görres.
Wenn irgend ein Lebcnder es vecmag, den gcoßen Baudenkmalen dcS Mit-
telalters in den innecsien Ocganism, so zu sagen ins Herz zu schauen und
das Walten ihces Bildungsqesetzes ;u belauschm, so ist es gewiß Görres,
deffen Genius, wie dieS Menzel beceits so treffend hervorgehoben *), mit dem
der qroßen Dombaumeistec die innigsie Vecwandlschift zeigt. Es darf indeß
nicht übersehcn wecden, daß die Eiitscheidungsgcünde füc d!e uns hier voclie-
gende Fcage msist rein factischec Natur siiid, der Ark, daß mir durch ein
genaucs Sludium an Ort und Stelle dieselbcn ecmitkelt werden konnen. Es
handelt si'ch hiec u:n scheinbar qecingfügige Modalicäcen in dem Detail, den
Maßen, Verhältaiffen, dem Schnitte und Charaktec der Oriiamenie,. der
Vrrbindung der einzclnen Glieder, kurz, um Dinge, tie auch das begableste
Genie so wenig auS si'ch selbsi als aus allgemeinen Mittheilungcn Oritter zu
schöpfen im Stande isi. Nun war es aber bekanntlich seit fast dreißig Jah-
ren dem Hrn. von Görres nicht vergönnt, unserii Dom anders als im
Geiste zu schauen, und weder Aeichnungen noch Literakuc sind vorhanden, uai
für die frhlende persönliche W.ihrnehmung einen Ecsatz zu leisten. Bei so
bewandten Umständen dürfte es wohl mit der gröficen Hochachtung vor der
in Rede stehenden zweiken Autocilät vrreinbar sein, d.n Ausspruch derselbsn
für unsern speciellen Fall als noch dsr R-oision fähig zu ccachien. Ein nähe-
res Eingehen in die görceS'sche Schrift würde übrigens mehc alS Einen Be-
weis liefern, daß die ecwähnten Verhällniffe, insbesondece die fchlende Autopsie,
auch im Uebrigen nicht ohne Einfluß auf die Darsiellung geblieben si'nd.
So wird z. B. Seite 126 aufgestellt,- daß auch die Pfeiler iu den Scicen-
schiffen des Domes nach dem urspcünqlichen Plane mit Standbildern hä'tken
geschmückt werden sollen, während cs nuc Eines BlickeS des Vecfassers in
diese Hallen bedurft hätte, um ihn davon zu überzeugen, daß ausschließlich
dem Mittelschiffe eine solche Aierde bestimmt war, indem bloß hicr Eon-
solen und Baldachine aus den Pfeilecn vorsprinqen **). Aber auch der Fort-
bau deS Domcs selbst hat seit dem Ecscheinen der Schrist dcs Hrn. v. G.
Entdeckungen ans Licht gefördert, wovon si'ch selbst voa den Kundigsien kei-
„Ich kann dcn Aiisdrnck dieses Geistes nur mit dem eines straßburger Mün-
sters oder kölner Domes vergleichcn. Wie man sagt, - daß Wi-ickelmann ein
inwendiger Bilohaner u»d Tieck ein i'nwendiger Schauspieler lel, so könnte
man auch von Görres sagen, er sei ein inwenviger Bannieister. WenigstenS
mahnen uns alle seine Ichristen in ihrem logischen Aufriffe uns in ihrem rei-
chen phantastischen Schmucke beständig an die Kunst Erwin's. Zn allen sei-
nen Werken zeigt sich der Tiefsinn ves gothi'schen FreimaurerS. Alle diese
Werke find ästhetisch nicht andcrS zu betrachten, denn als Kirchen, wunder-
sam durchdachte, vom tiefsten Grunde bis zur p-ramioalischen Spitze vlan»
voll durchgeführte, unerschöpflich reiche Knnstwerke, die sich aber von anrer«
Gebäuden des menschlichen Geistes durch den Ansdruck des Christlichen, He>
ligcn, Kirchlichen, sehr scharf unterscheiven u. s. w." Bgl. W. Menzel: Die
deutsche Literatur, 1. S. 157.
Von weiteren factischen Jrrthümem moge noch hervorgehobcn werden, daß
Hr. v. G. den Prachtriß des straßburger Münsters, wovon auf S. 20 die
Rede ist, von zwei verschiedenen Meistern herrühren läßt, währenv der Auger-
fchein unverkennbar ergibt, daß^derselbe von ciner Hand gezeichnet ist;daß
dagegen die Krppta, von der S. 2Z gehandelt wird, in zwei verschic-
denen Perioden entstanden ist, und zwar der spätere Theil gleichzeitig mit
dem Chore i'm 12. Jahrhundert, welchem auch die Würfel-Caxitäle ange-
hören- Endlich geht Hr. v. G. auf L>. 114 seiner Schrist von ver irrigm
factischen Unterstellung aus, daß fich unter dcm Chore des kölner Domes
eine Krypta befinde. Jch erwähne diese Dinge nur, um ;u zeigen, daß da,
wo es fich zunächst mn daS positiv Gegebene handelt, auch ver allerbe-
deutendsten' Autorität ein blinver Glaube nicht geschenkt werven dars.