erhalten können. Bei den Initialen ist dies kaum an-
ders zu erwarten, da es in der Antike keine in Grö-
ße und Aufwand vergleichbare Zierbuchstaben ge-
geben hat. Die Ll-Initialligatur im Ada-Evangeliar
am Anfang des Matthäusevangeliums zeigt (vgl.
Abb.29), dass nicht zuletzt die insularen Traditio-
nen fortgesetzt wurden, die wir in einer früheren
Form im Lindisfarne-Evangeliar (vgl. Abb.25) ge-
sehen hatten. Nicht nur das Flechtband, das die
Kästen im Buchstabenkörper füllt und goldene
„Cornua" (Hörner) an Kopf und Fuß der Initiale
ausbildet, ist typiscli insular, auch die Gesamtform
des L ist die einer insularen Unziale. Durch die An-
gelsachsenmission des 8.Jahrhunderts waren solche
Formen längst in vielen kontinentalen Skriptorien
verbreitet, sodass ihr Auftauchen im Herzen des
Frankenreichs keine Überraschung bietet. Überra-
schend allerdings ist es, wie gut sich diese Motive
hier und auch in den Seitenrahmungen der „Hof-
schule" (vgl. auch Abb. 28) mit den völlig anders
gearteten antikisierenden Mustern verbinden lie-
ßen. Von den merowingischen Formen hingegen
erscheinen fast keine Spuren mehr in der Hofkunst
und den kommenden karolingischen Handschrif-
tengruppen.
Die erhaltenen Evangeliare und das Godescalc-
Evangelistar lassen zunächst vermuten, dass die
Buchmaler der Hofschule nur Bilder sitzender
Evangelisten, aber keine erzählenden Szenen ge-
schaffen hätten. Doch ist dieser Eindruck nicht zu-
letzt durch die ungünstige Überlieferung bedingt.
In der Elfenbeinkunst, die zeitgleich und mit stilis-
tischen Parallelen zur Buchmalerei entstand, sind
umfangreiche Leben-Christi-Zyklen erhalten, so
auf einer Platte, die heute einen Codex in der Ox-
forder Bodleian Library ziert (Ms. Douce 176).
Überdies muss es in den Evangelistaren in der Zeit
nach Godescalc solche Bildreihen gegeben haben;
ein Fragment mit der Verkündigung an Zacharias
ist von Wilhelm Koehler in einem Codex in Lon-
don entdeckt worden (BL, Ms. Cotton Claudius
B.V, fol. 132v). Und selbst auf den Evangelistensei-
ten einiger Evangeliare oder gar in gemalten Zier-
gemmen auf den Seitenrahmungen sind in äußerst
kleinem Maßstab Szenen aus dem Leben Christi zu
erkennen.
Zu den Auffälligkeiten der Zeit Karls des Gro-
ßen zählt, dass es parallel zum ersten noch einen
zweiten Hofstil gegeben hat. In einer Gruppe von
heute noch vier Evangeliaren rund um das in die
Wiener Hofburg gelangte Krönungsevangeliar ist
noch einmal eine ganz andere Stufe der Antiken-
Alle vier Evangelisten sind im Eingangsbild des in
Aachen verbliebenen Evangeliars in einer atmo-
sphärisch gestalteten Landschaft verteilt. Hof-
skriptorium Karls des Großen, Anfang 9.Jahrhun-
dert. Aachen, Dom, Schatzkammerevangeliar,
fol. 14v (30,5 x 24 cm).
rezeption erreicht worden. Am Krönungsevangeliar,
das noch aus dem letzten Jahrzehnt des 8.Jahrhun-
derts stammt, arbeiteten vermutlich sogar byzanti-
nische Maler mit. Im Aachener Schatzkammer-
evangeliar der Zeit um 800 bis 810 (Abb.30) sitzen
die antikisch wirkenden Evangelisten in einer durch
sanfte Farbübergänge und Schatten illusionistisch
gestalteten Felslandschaft. Und auch bei den Ge-
wändern, obwohl sie sich in ihrem leuchtenden
Weiß klar von der Umgebung absetzen, ist die sonst
alles bestimmende Konturlinie zugunsten eines im-
pressionistisch verschwimmenden Faltengespinstes
verschwunden. Hier wurde selbst für die Nimben
auf Gold verzichtet, um den Eindruck einer stim-
61 1. Antikes Erbe und
neue Wege in der
Karolingerzeit
ders zu erwarten, da es in der Antike keine in Grö-
ße und Aufwand vergleichbare Zierbuchstaben ge-
geben hat. Die Ll-Initialligatur im Ada-Evangeliar
am Anfang des Matthäusevangeliums zeigt (vgl.
Abb.29), dass nicht zuletzt die insularen Traditio-
nen fortgesetzt wurden, die wir in einer früheren
Form im Lindisfarne-Evangeliar (vgl. Abb.25) ge-
sehen hatten. Nicht nur das Flechtband, das die
Kästen im Buchstabenkörper füllt und goldene
„Cornua" (Hörner) an Kopf und Fuß der Initiale
ausbildet, ist typiscli insular, auch die Gesamtform
des L ist die einer insularen Unziale. Durch die An-
gelsachsenmission des 8.Jahrhunderts waren solche
Formen längst in vielen kontinentalen Skriptorien
verbreitet, sodass ihr Auftauchen im Herzen des
Frankenreichs keine Überraschung bietet. Überra-
schend allerdings ist es, wie gut sich diese Motive
hier und auch in den Seitenrahmungen der „Hof-
schule" (vgl. auch Abb. 28) mit den völlig anders
gearteten antikisierenden Mustern verbinden lie-
ßen. Von den merowingischen Formen hingegen
erscheinen fast keine Spuren mehr in der Hofkunst
und den kommenden karolingischen Handschrif-
tengruppen.
Die erhaltenen Evangeliare und das Godescalc-
Evangelistar lassen zunächst vermuten, dass die
Buchmaler der Hofschule nur Bilder sitzender
Evangelisten, aber keine erzählenden Szenen ge-
schaffen hätten. Doch ist dieser Eindruck nicht zu-
letzt durch die ungünstige Überlieferung bedingt.
In der Elfenbeinkunst, die zeitgleich und mit stilis-
tischen Parallelen zur Buchmalerei entstand, sind
umfangreiche Leben-Christi-Zyklen erhalten, so
auf einer Platte, die heute einen Codex in der Ox-
forder Bodleian Library ziert (Ms. Douce 176).
Überdies muss es in den Evangelistaren in der Zeit
nach Godescalc solche Bildreihen gegeben haben;
ein Fragment mit der Verkündigung an Zacharias
ist von Wilhelm Koehler in einem Codex in Lon-
don entdeckt worden (BL, Ms. Cotton Claudius
B.V, fol. 132v). Und selbst auf den Evangelistensei-
ten einiger Evangeliare oder gar in gemalten Zier-
gemmen auf den Seitenrahmungen sind in äußerst
kleinem Maßstab Szenen aus dem Leben Christi zu
erkennen.
Zu den Auffälligkeiten der Zeit Karls des Gro-
ßen zählt, dass es parallel zum ersten noch einen
zweiten Hofstil gegeben hat. In einer Gruppe von
heute noch vier Evangeliaren rund um das in die
Wiener Hofburg gelangte Krönungsevangeliar ist
noch einmal eine ganz andere Stufe der Antiken-
Alle vier Evangelisten sind im Eingangsbild des in
Aachen verbliebenen Evangeliars in einer atmo-
sphärisch gestalteten Landschaft verteilt. Hof-
skriptorium Karls des Großen, Anfang 9.Jahrhun-
dert. Aachen, Dom, Schatzkammerevangeliar,
fol. 14v (30,5 x 24 cm).
rezeption erreicht worden. Am Krönungsevangeliar,
das noch aus dem letzten Jahrzehnt des 8.Jahrhun-
derts stammt, arbeiteten vermutlich sogar byzanti-
nische Maler mit. Im Aachener Schatzkammer-
evangeliar der Zeit um 800 bis 810 (Abb.30) sitzen
die antikisch wirkenden Evangelisten in einer durch
sanfte Farbübergänge und Schatten illusionistisch
gestalteten Felslandschaft. Und auch bei den Ge-
wändern, obwohl sie sich in ihrem leuchtenden
Weiß klar von der Umgebung absetzen, ist die sonst
alles bestimmende Konturlinie zugunsten eines im-
pressionistisch verschwimmenden Faltengespinstes
verschwunden. Hier wurde selbst für die Nimben
auf Gold verzichtet, um den Eindruck einer stim-
61 1. Antikes Erbe und
neue Wege in der
Karolingerzeit