mungsvollen Naturbeobachtung nicht zu stören.
Dieser „Natureindruck" achtet in Wirklichkeit auf
eine gleichmäßige Verteilung der Evangelisten in
der Bildfläche und arbeitet dafür mit dem Trick,
eine scheinbare räumliche Abfolge in die Höhe zu
stapeln und dazwischen Felsen aufzutürmen. Auch
der Rahmen um diese Landschaft herum ist dabei
eine Illusion, die auf den Betrachter den Eindruck
einer edelsteinbesetzten Goldschmiedearbeit ma-
chen soll.
In der Nachfolge Karls des Großen
Beide Stilrichtungen des Hofskriptoriums haben an
verschiedenen Orten des damaligen Frankenreichs
Nachfolge gefunden. Dabei hat sich die größte Wir-
kung der mit der Hofschule identifizierten Gruppe
seltsamerweise vor allem erst in der Ottonenzeit im
Ostfränkisch-Deutschen Reich entfaltet (vgl. Abb.34-
35). Der antikennähere Illusionismus hingegen ist
in verschiedenen Formen noch im 9.Jahrhundert
für die Skriptorien im lothringischen Metz und im
westfränkischen Reims, vielleicht auch für eine
Hofschule Kaiser Lothars und jedenfalls für dieje-
nige Karls des Kahlen vorbildlich geworden. Man
kann davon ausgehen, dass hier im Auftrag karolin-
gischer Teilherrscher oder statusbewusster Bischöfe
eine auch propagandistiscli gemeinte Anknüpfung
an den ersten Kaiser versucht wurde.
Andererseits waren die Klöster von Karl dem
Großen angehalten worden, sich an der Abschrift
und der Korrektur von Büchern, am Unterricht so-
wie am theologischen Studium zu beteiligen. Darin
wurden sie durch personellen Austausch unter-
stützt, der wie in dem erwähnten Fall von Fulda
unmittelbar auch die eigentlich nachgeordnete
Buchkunst förderte. In der Abtei Sankt Martin in
Tours war 796 mit Alkuin der wichtigste intellektu-
elle Ratgeber Karls des Großen als Abt eingesetzt
worden. Recht bald hat er sich dort an die Zusam-
menstellung und Redaktion einer Bibel in einem
Band gemacht, einer Buchform, die offensichtlich
lange Zeit sehr selten gewesen war (vgl. Infokasten:
Die Bibel, S. 88). Um die Vollbibel, die als Pandekt
und im zeitgenössischen Sprachgebrauch sogar als
Die Seite zum Beginn der Genesis ist in der soge-
nannten Alkuin-Bibel mit Gold und Silber gemalt.
Tragischerweise hat das zum Diebstahl einiger der
Randmedaillons mit biblischen Autoren verleitet.
Tours, Kloster Marmoutier (?) 834-843. Bamberg,
SB, Msc. Bibl. l,fol. 7v (47,3 x 35,3 cm).
„Bibliotheca" bezeichnet wurde, möglichst rasch in
vielen Exemplaren verfügbar zu machen, hat Al-
kuin allerdings nur eine grammatikalische Durch-
sicht vorgenommen. Tatsächlich sind mindestens
sechs Exemplare belegt, die noch vor dem Tod Al-
kuins 804 fertiggestellt wurden. Eine umfassende
philologische Sichtung, die kurz darauf der gelehrte
Westgote Theodulf unter Heranziehung hebräi-
scher und griechischer Texte im nahen Orleans un-
ternahm, führte hingegen zu mehreren abweichen-
den Redaktionen, die als Vorlage für eine größere
Verbreitung zunächst ungeeignet waren.
Die erhaltenen Touroner Bibeln, die unter Al-
kuin entstanden sind (Sankt Gallen, Stiftsbiblio-
thek, Cod. 75; Fragment Paris, BnF, lat. 8847), be-
sitzen keinen Schmuck, der über farbige Initialen
und Kanonbögen hinausginge. Diese Zurückhal-
tung scheint für alle Codices unter Alkuin zuzu-
treffen, doch hat er immerhin eine Handschriften-
herstellung angestoßen, die nach ihm noch ein
halbes Jahrhundert aktiv sein würde. Man darf den
immensen Aufwand nicht unterschätzen, den sol-
che Codices erforderten, und zwar nicht nur, weil
ihre gut 400 Blätter etwa einen halben Meter hoch
waren, sondern auch wegen der Textmenge, die ab-
geschrieben und durchkorrigiert werden musste.
Erst am Beginn der zwanziger Jahre, unter Abt Fri-
dugis (807-834), kommen dann goldene Flecht-
bänder und Randleisten sowie ornamentale Seiten-
rahmungen zum Einsatz. Noch später, unter den
Laienäbten Adalhard (834-843) und Vivian (844/45-
851), sollten die illustrierten Bibeln entstehen, mit
denen die Touroner Buchmalerei heute vor allem
identifiziert wird. Unter den erhaltenen Bilderbi-
beln nimmt dabei die sogenannte Alkuin-Bibel
(Bamberg, SB, Msc. Bibl. 1) bereits durch ihren Text
und die Initialornamentik eine Sonderstellung ein,
die zu der Überlegung geführt hat, sie sei vielleicht
als einzige im Touroner Kloster Marmoutier und
nicht in dem zum Kanonikerstift gewordenen
Saint-Martin entstanden (Abb.31).
Die Bebilderung der Touroner Bibeln besteht
vor allem aus ganzseitigen Frontispizen zu einer
variablen Auswahl der biblischen Bücher. Obwohl
auch die Bildprogramme der übrigen Exemplare
voneinander abweichen, ist hierin die Alkuin-Bibel
stärker isoliert. So enthält dieser vielleicht noch in
der Mitte der dreißiger Jahre geschriebene Pandekt
nur zwei Frontispize: eines zum Buch Genesis, das
gleichzeitig dem ganzen Alten Testament gilt, und
eines zum Neuen Testament, bei dem die vier Evan-
gelistensymbole und die vier großen Propheten das
63 1. Antikes Erbe und
neue Wege in der
Karolingerzeit
Dieser „Natureindruck" achtet in Wirklichkeit auf
eine gleichmäßige Verteilung der Evangelisten in
der Bildfläche und arbeitet dafür mit dem Trick,
eine scheinbare räumliche Abfolge in die Höhe zu
stapeln und dazwischen Felsen aufzutürmen. Auch
der Rahmen um diese Landschaft herum ist dabei
eine Illusion, die auf den Betrachter den Eindruck
einer edelsteinbesetzten Goldschmiedearbeit ma-
chen soll.
In der Nachfolge Karls des Großen
Beide Stilrichtungen des Hofskriptoriums haben an
verschiedenen Orten des damaligen Frankenreichs
Nachfolge gefunden. Dabei hat sich die größte Wir-
kung der mit der Hofschule identifizierten Gruppe
seltsamerweise vor allem erst in der Ottonenzeit im
Ostfränkisch-Deutschen Reich entfaltet (vgl. Abb.34-
35). Der antikennähere Illusionismus hingegen ist
in verschiedenen Formen noch im 9.Jahrhundert
für die Skriptorien im lothringischen Metz und im
westfränkischen Reims, vielleicht auch für eine
Hofschule Kaiser Lothars und jedenfalls für dieje-
nige Karls des Kahlen vorbildlich geworden. Man
kann davon ausgehen, dass hier im Auftrag karolin-
gischer Teilherrscher oder statusbewusster Bischöfe
eine auch propagandistiscli gemeinte Anknüpfung
an den ersten Kaiser versucht wurde.
Andererseits waren die Klöster von Karl dem
Großen angehalten worden, sich an der Abschrift
und der Korrektur von Büchern, am Unterricht so-
wie am theologischen Studium zu beteiligen. Darin
wurden sie durch personellen Austausch unter-
stützt, der wie in dem erwähnten Fall von Fulda
unmittelbar auch die eigentlich nachgeordnete
Buchkunst förderte. In der Abtei Sankt Martin in
Tours war 796 mit Alkuin der wichtigste intellektu-
elle Ratgeber Karls des Großen als Abt eingesetzt
worden. Recht bald hat er sich dort an die Zusam-
menstellung und Redaktion einer Bibel in einem
Band gemacht, einer Buchform, die offensichtlich
lange Zeit sehr selten gewesen war (vgl. Infokasten:
Die Bibel, S. 88). Um die Vollbibel, die als Pandekt
und im zeitgenössischen Sprachgebrauch sogar als
Die Seite zum Beginn der Genesis ist in der soge-
nannten Alkuin-Bibel mit Gold und Silber gemalt.
Tragischerweise hat das zum Diebstahl einiger der
Randmedaillons mit biblischen Autoren verleitet.
Tours, Kloster Marmoutier (?) 834-843. Bamberg,
SB, Msc. Bibl. l,fol. 7v (47,3 x 35,3 cm).
„Bibliotheca" bezeichnet wurde, möglichst rasch in
vielen Exemplaren verfügbar zu machen, hat Al-
kuin allerdings nur eine grammatikalische Durch-
sicht vorgenommen. Tatsächlich sind mindestens
sechs Exemplare belegt, die noch vor dem Tod Al-
kuins 804 fertiggestellt wurden. Eine umfassende
philologische Sichtung, die kurz darauf der gelehrte
Westgote Theodulf unter Heranziehung hebräi-
scher und griechischer Texte im nahen Orleans un-
ternahm, führte hingegen zu mehreren abweichen-
den Redaktionen, die als Vorlage für eine größere
Verbreitung zunächst ungeeignet waren.
Die erhaltenen Touroner Bibeln, die unter Al-
kuin entstanden sind (Sankt Gallen, Stiftsbiblio-
thek, Cod. 75; Fragment Paris, BnF, lat. 8847), be-
sitzen keinen Schmuck, der über farbige Initialen
und Kanonbögen hinausginge. Diese Zurückhal-
tung scheint für alle Codices unter Alkuin zuzu-
treffen, doch hat er immerhin eine Handschriften-
herstellung angestoßen, die nach ihm noch ein
halbes Jahrhundert aktiv sein würde. Man darf den
immensen Aufwand nicht unterschätzen, den sol-
che Codices erforderten, und zwar nicht nur, weil
ihre gut 400 Blätter etwa einen halben Meter hoch
waren, sondern auch wegen der Textmenge, die ab-
geschrieben und durchkorrigiert werden musste.
Erst am Beginn der zwanziger Jahre, unter Abt Fri-
dugis (807-834), kommen dann goldene Flecht-
bänder und Randleisten sowie ornamentale Seiten-
rahmungen zum Einsatz. Noch später, unter den
Laienäbten Adalhard (834-843) und Vivian (844/45-
851), sollten die illustrierten Bibeln entstehen, mit
denen die Touroner Buchmalerei heute vor allem
identifiziert wird. Unter den erhaltenen Bilderbi-
beln nimmt dabei die sogenannte Alkuin-Bibel
(Bamberg, SB, Msc. Bibl. 1) bereits durch ihren Text
und die Initialornamentik eine Sonderstellung ein,
die zu der Überlegung geführt hat, sie sei vielleicht
als einzige im Touroner Kloster Marmoutier und
nicht in dem zum Kanonikerstift gewordenen
Saint-Martin entstanden (Abb.31).
Die Bebilderung der Touroner Bibeln besteht
vor allem aus ganzseitigen Frontispizen zu einer
variablen Auswahl der biblischen Bücher. Obwohl
auch die Bildprogramme der übrigen Exemplare
voneinander abweichen, ist hierin die Alkuin-Bibel
stärker isoliert. So enthält dieser vielleicht noch in
der Mitte der dreißiger Jahre geschriebene Pandekt
nur zwei Frontispize: eines zum Buch Genesis, das
gleichzeitig dem ganzen Alten Testament gilt, und
eines zum Neuen Testament, bei dem die vier Evan-
gelistensymbole und die vier großen Propheten das
63 1. Antikes Erbe und
neue Wege in der
Karolingerzeit