Agnus Dci umgeben. Dagegen bietet die in kurzem
zeitlichen Abstand zu ihr geschriebene Bibel von
Moutiers-Grandval (London, BL, Ms. Add. 10546)
noch eine Bildseite zu Exodus und eine zur Apoka-
lypse; das Frontispiz zum Neuen Testament zeigt
hier obendrein nicht das Lamm Gottes, sondern die
in Tours viel häufigere Maiestas Domini, also die
Erscheinung Christi zwischen den Evangelisten-
symbolen. Noch umfangreicher ist das Programm
in der vermutlich 845 fertiggestellten Vivian-Bibel,
die auch als Erste Bibel Karls des Kahlen bekannt
ist (Paris, BnF, lat. 1): Hier haben obendrein der
Prolog des Hieronymus, der Psalter und die Apos-
tolischen Briefe Frontispize erhalten, zu denen
noch ein Bild mit der Übergabe des Pandekten an
den Herrscher kommt.
Auch in ästhetischer Hinsicht hebt sich die
Bamberger Bibel von den beiden übrigen Exempla-
ren ab, denn nur in ihr sind die Bilder nicht mit bun-
ten Deckfarben, sondern mit Gold und Silber ge-
malt, wobei sich die bemerkenswert kleinteiligen
Figuren ausnahmsweise nicht in einem Umraum be-
wegen, sondern silhouettenartig auf der Grundlinie
des Bildes. Allerdings sind diese Metallmalereien,
die nicht ganz korrekt als Silhouettenbilder bezeich-
net werden, auch in anderen Touroner Handschrif-
ten überliefert, die aus Saint-Martin selbst kommen.
Die Bildseite zur Genesis ist in Bamberg von
erstaunlicher Detailfreude. In elf Szenen werden
die Erschaffung der ersten Menschen und der Sün-
denfall vor Augen geführt: In keiner anderen karo-
lingischen Bibel sind so viele Begebenheiten der
Genesis illustriert. Beischriften in goldener Capita-
lis rustica auf breiten, die Bildstreifen trennenden
Purpurstreifen laufen dabei über den Bilderregis-
tern einher und erklären den Betrachtern die Ge-
schehnisse. Obwohl die Bilder hier mit ihrem Fluss
die Zeilen der Schrift nachahmen und sich ihnen
damit scheinbar unterordnen, sind sie in Wirklich-
keit aber den wenig anspruchsvollen Bild-Tituli an
Raffinement überlegen. So werden die Farben im
Verlauf der Verfallsgeschichte langsam herabge-
stuft, ohne dabei einer allzu flachen Symbolik zu
folgen. Im ersten Register sind die Bäume noch
golden, während das unterste, das die Welt außer-
halb des Paradieses zeigt, nur grüne Bäume enthält.
Die Figur des Schöpfers, die durclt die Buchrolle
und das jugendliche Gesicht, nicht aber durch den
Kreuznimbus als das fleischgewordene Wort er-
kennbar ist, bleibt immer golden; der Schlange
kommt dieses Metall nur während der Benennung
der Tiere im ersten Register zu, jedoch nicht mehr
beim Sündenfall im zweiten. Einen hoffnungsfro-
hen und zugleich theologischen Akzent setzt die
thronende goldene Figur am Ende der Seite: Der
Titulus spricht von Eva, die die Kinder säugt. Doch
ohne Schwierigkeiten ist diese Frau zugleich als
Bild der thronenden Madonna zu erkennen, sodass,
wie oft in der Touroner Buchmalerei, in typologi-
scher Entsprechung zugleich an die neutestamentli-
che Gegenfigur erinnert wird.
In den Kirchenbibliotheken von Tours haben
nachweislich illustrierte spätantike Handschriften
gelegen, die auch die Vorbilder für manche Motive
der dortigen karolingischen Buchmalerei geliefert
haben. Zu Recht ist angenommen worden, auch ein
umfassender Genesis-Zyklus sei dort verfügbar ge-
wesen. Die Suche nach einem exakten Vorbild sol-
cher erzählenden Bilderreihen ist jedoch heute der
Überzeugung gewichen, dass die mittelalterlichen
Maler sehr frei mit ihren Vorlagen umgingen, etwa
Szenen wegließen, veränderten oder hinzufügten,
um die eigenen Vorstellungen umzusetzen.
Am Ende der Kunstepoche, die wir als die ka-
rolingische bezeichnen, entstand noch einmal unter
dem gleichnamigen Enkel des ersten Kaisers eine
prachtvolle Hofkunst. Karl der Kahle, der erst 823
geborene Sohn Ludwigs des Frommen, der bei der
geplanten Erbteilung eigentlich kein eigenes Teil-
reich hätte erhalten sollen, war durch den Einsatz
seiner Mutter und die Zeitumstände beim Tod sei-
nes Vaters 840 praktisch Herrscher über das west-
fränkische Teilreich geworden. Mit der Verteidi-
gung des Besitzes 841-843 setzte die Entwicklung
zu den späteren europäischen Nationen Frankreich
und Deutschland ein. Allerdings hatten sich diese
Teilreiche Karls und seiner Halbbrüder Lothar und
Ludwig durch die Bruderkriege so geschwächt,
dass nun, zwei Generationen nach Karl dem Gro-
ßen, das Land von den militärischen Verwüstungs-
zügen räuberischer Nachbarvölker heimgesucht
werden konnte. Schon 845 plünderten die Nor-
mannen Paris, 853 zerstörten sie Tours, das danach
für die Buchmalerei nur noch eine untergeordnete
Rolle spielte.
Die Hofschule Karls des Kahlen, die ungefähr
zu arbeiten begann, als die Martinsabtei für solche
Aufträge ausfiel, repräsentierte also nicht wie bei
Karl dem Großen ein wohlgeordnetes und starkes
Reich, sondern beschwor es allerhöchstens. Bei die-
ser „Hofschule" stellt sich die Frage nach ihrer Lo-
kalisierung dringender als bei der Karls des Gro-
ßen, traut man diesem umherfahrenden Hof eines
Teilkönigs doch weit weniger eine Infrastruktur zu,
TTT Buchkunst
11 1 . im Spiegel
der Zeiten
64
zeitlichen Abstand zu ihr geschriebene Bibel von
Moutiers-Grandval (London, BL, Ms. Add. 10546)
noch eine Bildseite zu Exodus und eine zur Apoka-
lypse; das Frontispiz zum Neuen Testament zeigt
hier obendrein nicht das Lamm Gottes, sondern die
in Tours viel häufigere Maiestas Domini, also die
Erscheinung Christi zwischen den Evangelisten-
symbolen. Noch umfangreicher ist das Programm
in der vermutlich 845 fertiggestellten Vivian-Bibel,
die auch als Erste Bibel Karls des Kahlen bekannt
ist (Paris, BnF, lat. 1): Hier haben obendrein der
Prolog des Hieronymus, der Psalter und die Apos-
tolischen Briefe Frontispize erhalten, zu denen
noch ein Bild mit der Übergabe des Pandekten an
den Herrscher kommt.
Auch in ästhetischer Hinsicht hebt sich die
Bamberger Bibel von den beiden übrigen Exempla-
ren ab, denn nur in ihr sind die Bilder nicht mit bun-
ten Deckfarben, sondern mit Gold und Silber ge-
malt, wobei sich die bemerkenswert kleinteiligen
Figuren ausnahmsweise nicht in einem Umraum be-
wegen, sondern silhouettenartig auf der Grundlinie
des Bildes. Allerdings sind diese Metallmalereien,
die nicht ganz korrekt als Silhouettenbilder bezeich-
net werden, auch in anderen Touroner Handschrif-
ten überliefert, die aus Saint-Martin selbst kommen.
Die Bildseite zur Genesis ist in Bamberg von
erstaunlicher Detailfreude. In elf Szenen werden
die Erschaffung der ersten Menschen und der Sün-
denfall vor Augen geführt: In keiner anderen karo-
lingischen Bibel sind so viele Begebenheiten der
Genesis illustriert. Beischriften in goldener Capita-
lis rustica auf breiten, die Bildstreifen trennenden
Purpurstreifen laufen dabei über den Bilderregis-
tern einher und erklären den Betrachtern die Ge-
schehnisse. Obwohl die Bilder hier mit ihrem Fluss
die Zeilen der Schrift nachahmen und sich ihnen
damit scheinbar unterordnen, sind sie in Wirklich-
keit aber den wenig anspruchsvollen Bild-Tituli an
Raffinement überlegen. So werden die Farben im
Verlauf der Verfallsgeschichte langsam herabge-
stuft, ohne dabei einer allzu flachen Symbolik zu
folgen. Im ersten Register sind die Bäume noch
golden, während das unterste, das die Welt außer-
halb des Paradieses zeigt, nur grüne Bäume enthält.
Die Figur des Schöpfers, die durclt die Buchrolle
und das jugendliche Gesicht, nicht aber durch den
Kreuznimbus als das fleischgewordene Wort er-
kennbar ist, bleibt immer golden; der Schlange
kommt dieses Metall nur während der Benennung
der Tiere im ersten Register zu, jedoch nicht mehr
beim Sündenfall im zweiten. Einen hoffnungsfro-
hen und zugleich theologischen Akzent setzt die
thronende goldene Figur am Ende der Seite: Der
Titulus spricht von Eva, die die Kinder säugt. Doch
ohne Schwierigkeiten ist diese Frau zugleich als
Bild der thronenden Madonna zu erkennen, sodass,
wie oft in der Touroner Buchmalerei, in typologi-
scher Entsprechung zugleich an die neutestamentli-
che Gegenfigur erinnert wird.
In den Kirchenbibliotheken von Tours haben
nachweislich illustrierte spätantike Handschriften
gelegen, die auch die Vorbilder für manche Motive
der dortigen karolingischen Buchmalerei geliefert
haben. Zu Recht ist angenommen worden, auch ein
umfassender Genesis-Zyklus sei dort verfügbar ge-
wesen. Die Suche nach einem exakten Vorbild sol-
cher erzählenden Bilderreihen ist jedoch heute der
Überzeugung gewichen, dass die mittelalterlichen
Maler sehr frei mit ihren Vorlagen umgingen, etwa
Szenen wegließen, veränderten oder hinzufügten,
um die eigenen Vorstellungen umzusetzen.
Am Ende der Kunstepoche, die wir als die ka-
rolingische bezeichnen, entstand noch einmal unter
dem gleichnamigen Enkel des ersten Kaisers eine
prachtvolle Hofkunst. Karl der Kahle, der erst 823
geborene Sohn Ludwigs des Frommen, der bei der
geplanten Erbteilung eigentlich kein eigenes Teil-
reich hätte erhalten sollen, war durch den Einsatz
seiner Mutter und die Zeitumstände beim Tod sei-
nes Vaters 840 praktisch Herrscher über das west-
fränkische Teilreich geworden. Mit der Verteidi-
gung des Besitzes 841-843 setzte die Entwicklung
zu den späteren europäischen Nationen Frankreich
und Deutschland ein. Allerdings hatten sich diese
Teilreiche Karls und seiner Halbbrüder Lothar und
Ludwig durch die Bruderkriege so geschwächt,
dass nun, zwei Generationen nach Karl dem Gro-
ßen, das Land von den militärischen Verwüstungs-
zügen räuberischer Nachbarvölker heimgesucht
werden konnte. Schon 845 plünderten die Nor-
mannen Paris, 853 zerstörten sie Tours, das danach
für die Buchmalerei nur noch eine untergeordnete
Rolle spielte.
Die Hofschule Karls des Kahlen, die ungefähr
zu arbeiten begann, als die Martinsabtei für solche
Aufträge ausfiel, repräsentierte also nicht wie bei
Karl dem Großen ein wohlgeordnetes und starkes
Reich, sondern beschwor es allerhöchstens. Bei die-
ser „Hofschule" stellt sich die Frage nach ihrer Lo-
kalisierung dringender als bei der Karls des Gro-
ßen, traut man diesem umherfahrenden Hof eines
Teilkönigs doch weit weniger eine Infrastruktur zu,
TTT Buchkunst
11 1 . im Spiegel
der Zeiten
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