in der über Jahre hinweg aufwändige Handschrif-
ten geschaffen wurden. Mit einigem Recht ist des-
wegen immer nach Klöstern gesucht worden, die
die Funktion des Hofskriptoriums ersatzweise
übernommen haben könnten. Mit vielen Klöstern
und Bischofssitzen stand Karl der Kahle jedenfalls
in regem Austausch, war doch damals eine Genera-
tion von intellektuellen Klerikern herangewachsen,
die mit bis dahin unbekanntem Scharfsinn über das
Wesen der Eucharistie, die Prädestination zur Ver-
dammung, den Platz der Ratio in den Wissenschaf-
ten, die Möglichkeiten einer Exegese der Liturgie
und - offenbar unvermeidlich - über kirchenrecht-
liche Fragen schrieb und stritt. Dass manche Intel-
lektuelle wie der Ire Johannes Scotus Eriugena auch
direkt an den Hof gingen, ist dabei unbestritten,
doch kann man nicht erkennen, dass der König
selbst für größere Reformen in der Kirche gesorgt
oder verbesserte Textredaktionen verbreitet hätte.
Die künstlerische Hofschule Karls des Kahlen,
deren räumliche Nähe zum Hof also unbewiesen
bleibt, fertigte neben Buchmalereien auch Gold-
schmiedearbeiten und Elfenbeinschnitzereien, so
etwa die Platte, die in ottonischer Zeit auf das Peri-
kopenbuch Heinrichs II. gelangt ist (vgl. Abb. 1).
An ihr zeigt sich, dass auch diesen Künstlern sehr
wohl Bildzyklen mit dem Christus-Leben bekannt
waren; hier sind daraus eine Kreuzigung mit vielen
Figuren und die Szene mit den drei Frauen am Grab
zu sehen. Auf dem Buchdeckel des Codex aureus
von Sankt Emmeram (München, BSB, Clm 14000)
sind vier Evangelienszenen in Goldtreibarbeit dar-
gestellt, darunter die Vertreibung der Händler aus
dem Tempel und eine Blindenheilung. In den Psal-
terien und Evangeliaren dieser „Hofschule" finden
sich von diesen Zyklen allerdings fast keine Spuren;
selbst das Bild des Gekreuzigten, das Karls Gebet-
buch in der Schatzkammer der Münchener Residenz
und das Sakramentarfragment aus Metz (Paris, BnF,
lat. 1141) enthalten, ist nicht erzählend, sondern aus
dem biblischen Zusammenhang isoliert.
Insgesamt sechs Evangeliare aus der Zeit bis
870 kennen wir aus dieser Hofschule, deren innerer
Schmuck gewöhnlich aus Kanonbögen, Evangelis-
tenbildern und Zierseiten mit Initiale oder Incipit
besteht, zusätzlich aber auch die Maiestas Domini
und ein Herrscherbild umfassen kann. Das früheste
dieser Evangeliare ist der Darmstädter Liuthard-
Codex Hs 746, der vielleicht nicht einmal lange
nach dem Wikingerangriff auf Tours zu datieren ist.
Von der Touroner Buchmalerei spürt man zunächst
aber nichts in dem Darmstädter Evangeliar. Das ist
nicht nur wegen der Zeitumstände bemerkenswert,
sondern auch, weil die neue Hofschule sich von
Anfang an Inspirationen aus verschiedenen Zentren
der Buchmalerei holte. Liuthard, der Hauptverant-
wortliche der Darmstädter Handschrift, hat eine so
deutliche Reimser Prägung, dass man vermuten
kann, er sei aus Reims gerufen worden. In Reims
war unter dem von Ludwig dem Frommen 816 ein-
gesetzten Erzbischof Ebo eine Gruppe von quali-
tätsvollen Prachthandschriften geschaffen worden,
die sich zwar an der Kunst um das Wiener Krö-
nungsevangeliar (vgl. Abb.30) orientierte, aber das
dichte Lineament in ganz neuer Weise zu einer Dy-
namisierung der Figuren und des gesamten Bildes
benutzte. Die Hauptwerke für Ebo, die vielleicht in
dem bei Reims gelegenen Kloster Hautvillers ent-
standen, sind das Ebo-Evangeliar (Epernay, Biblio-
theque Municipale, Ms. 1) und der mit Federzeich-
nungen zu allen Psalmen versehene Utrecht-Psalter
(Utrecht, Bibliotheek der Rijksuniversiteit, Ms. 32).
Trotz der großen Streitigkeiten um den Besitz des
Reimser Erzstuhles ab 834 scheint sich in Reims so
etwas wie eine langandauernde lokale Schule gebil-
det zu haben, in dem Sinn, dass der Stil der Ebo-
Zeit bis nach 875 als Grundlage der dortigen Buch-
malereien erkennbar bleibt.
Das Darmstädter Evangeliar scheint nur von
diesem einzigen Maler Liuthard gemalt worden zu
sein, der sogar seinen Namen am Ende der letzten
Kanontafel verewigt hat. In mit Gold geschriebe-
nen tironischen Noten, einer Geheimschrift, steht
hier über dem „DECIMUS": „Liuthardus [oder
„Leuthardus"] ornavit" (Abb.32). Dennoch zeigen
sich zwischen den einzelnen Evangelistenbildern
Unterschiede, die durch die Übernahme weiterer,
insbesondere wohl Metzer Stilelemente zu erklären
sind. Der Matthäus des Liuthard-Evangeliars bleibt
dabei der Reimser Tradition weitgehend verpflich-
tet, was dazu führt, dass er den Evangelisten des
mindestens 50 Jahre vorher entstandenen Aachener
Schatzkammerevangeliars (vgl. Abb.30) reichlich
nahesteht. Man erkennt auch, dass Liuthard die
Wellenlinien, die einst der Illusion einer leicht
dunstigen Landschaft dienten, nur noch als Gestal-
tungselement für einen planen Hintergrund nutzt:
Der Umraum ist Liuthard trotz der anatomisch
überzeugenden und plastisch durchgeformten
menschlichen Figur gleichgültig.
Eine Richtung, die ebenfalls prägend auf die
Erscheinung dieser Seite einwirkte, ist die Hofschu-
le Karls des Großen. Jedoch sind es weder Stilele-
mente noch Einzelmotive, die von dort übernom-
65 1. Antikes Erbe und
neue Wege in der
Karolingerzeit
ten geschaffen wurden. Mit einigem Recht ist des-
wegen immer nach Klöstern gesucht worden, die
die Funktion des Hofskriptoriums ersatzweise
übernommen haben könnten. Mit vielen Klöstern
und Bischofssitzen stand Karl der Kahle jedenfalls
in regem Austausch, war doch damals eine Genera-
tion von intellektuellen Klerikern herangewachsen,
die mit bis dahin unbekanntem Scharfsinn über das
Wesen der Eucharistie, die Prädestination zur Ver-
dammung, den Platz der Ratio in den Wissenschaf-
ten, die Möglichkeiten einer Exegese der Liturgie
und - offenbar unvermeidlich - über kirchenrecht-
liche Fragen schrieb und stritt. Dass manche Intel-
lektuelle wie der Ire Johannes Scotus Eriugena auch
direkt an den Hof gingen, ist dabei unbestritten,
doch kann man nicht erkennen, dass der König
selbst für größere Reformen in der Kirche gesorgt
oder verbesserte Textredaktionen verbreitet hätte.
Die künstlerische Hofschule Karls des Kahlen,
deren räumliche Nähe zum Hof also unbewiesen
bleibt, fertigte neben Buchmalereien auch Gold-
schmiedearbeiten und Elfenbeinschnitzereien, so
etwa die Platte, die in ottonischer Zeit auf das Peri-
kopenbuch Heinrichs II. gelangt ist (vgl. Abb. 1).
An ihr zeigt sich, dass auch diesen Künstlern sehr
wohl Bildzyklen mit dem Christus-Leben bekannt
waren; hier sind daraus eine Kreuzigung mit vielen
Figuren und die Szene mit den drei Frauen am Grab
zu sehen. Auf dem Buchdeckel des Codex aureus
von Sankt Emmeram (München, BSB, Clm 14000)
sind vier Evangelienszenen in Goldtreibarbeit dar-
gestellt, darunter die Vertreibung der Händler aus
dem Tempel und eine Blindenheilung. In den Psal-
terien und Evangeliaren dieser „Hofschule" finden
sich von diesen Zyklen allerdings fast keine Spuren;
selbst das Bild des Gekreuzigten, das Karls Gebet-
buch in der Schatzkammer der Münchener Residenz
und das Sakramentarfragment aus Metz (Paris, BnF,
lat. 1141) enthalten, ist nicht erzählend, sondern aus
dem biblischen Zusammenhang isoliert.
Insgesamt sechs Evangeliare aus der Zeit bis
870 kennen wir aus dieser Hofschule, deren innerer
Schmuck gewöhnlich aus Kanonbögen, Evangelis-
tenbildern und Zierseiten mit Initiale oder Incipit
besteht, zusätzlich aber auch die Maiestas Domini
und ein Herrscherbild umfassen kann. Das früheste
dieser Evangeliare ist der Darmstädter Liuthard-
Codex Hs 746, der vielleicht nicht einmal lange
nach dem Wikingerangriff auf Tours zu datieren ist.
Von der Touroner Buchmalerei spürt man zunächst
aber nichts in dem Darmstädter Evangeliar. Das ist
nicht nur wegen der Zeitumstände bemerkenswert,
sondern auch, weil die neue Hofschule sich von
Anfang an Inspirationen aus verschiedenen Zentren
der Buchmalerei holte. Liuthard, der Hauptverant-
wortliche der Darmstädter Handschrift, hat eine so
deutliche Reimser Prägung, dass man vermuten
kann, er sei aus Reims gerufen worden. In Reims
war unter dem von Ludwig dem Frommen 816 ein-
gesetzten Erzbischof Ebo eine Gruppe von quali-
tätsvollen Prachthandschriften geschaffen worden,
die sich zwar an der Kunst um das Wiener Krö-
nungsevangeliar (vgl. Abb.30) orientierte, aber das
dichte Lineament in ganz neuer Weise zu einer Dy-
namisierung der Figuren und des gesamten Bildes
benutzte. Die Hauptwerke für Ebo, die vielleicht in
dem bei Reims gelegenen Kloster Hautvillers ent-
standen, sind das Ebo-Evangeliar (Epernay, Biblio-
theque Municipale, Ms. 1) und der mit Federzeich-
nungen zu allen Psalmen versehene Utrecht-Psalter
(Utrecht, Bibliotheek der Rijksuniversiteit, Ms. 32).
Trotz der großen Streitigkeiten um den Besitz des
Reimser Erzstuhles ab 834 scheint sich in Reims so
etwas wie eine langandauernde lokale Schule gebil-
det zu haben, in dem Sinn, dass der Stil der Ebo-
Zeit bis nach 875 als Grundlage der dortigen Buch-
malereien erkennbar bleibt.
Das Darmstädter Evangeliar scheint nur von
diesem einzigen Maler Liuthard gemalt worden zu
sein, der sogar seinen Namen am Ende der letzten
Kanontafel verewigt hat. In mit Gold geschriebe-
nen tironischen Noten, einer Geheimschrift, steht
hier über dem „DECIMUS": „Liuthardus [oder
„Leuthardus"] ornavit" (Abb.32). Dennoch zeigen
sich zwischen den einzelnen Evangelistenbildern
Unterschiede, die durch die Übernahme weiterer,
insbesondere wohl Metzer Stilelemente zu erklären
sind. Der Matthäus des Liuthard-Evangeliars bleibt
dabei der Reimser Tradition weitgehend verpflich-
tet, was dazu führt, dass er den Evangelisten des
mindestens 50 Jahre vorher entstandenen Aachener
Schatzkammerevangeliars (vgl. Abb.30) reichlich
nahesteht. Man erkennt auch, dass Liuthard die
Wellenlinien, die einst der Illusion einer leicht
dunstigen Landschaft dienten, nur noch als Gestal-
tungselement für einen planen Hintergrund nutzt:
Der Umraum ist Liuthard trotz der anatomisch
überzeugenden und plastisch durchgeformten
menschlichen Figur gleichgültig.
Eine Richtung, die ebenfalls prägend auf die
Erscheinung dieser Seite einwirkte, ist die Hofschu-
le Karls des Großen. Jedoch sind es weder Stilele-
mente noch Einzelmotive, die von dort übernom-
65 1. Antikes Erbe und
neue Wege in der
Karolingerzeit