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Formen der Arbeitsorganisation, die auch die
Buchmalerei sehr stark veränderten. Am Ende des
12.Jahrhunderts sind die Bücher überwiegend nicht
mehr in den Klöstern hergestellt worden. Und da,
wo Klöster noch Bücher herstellten, taten sie dies
entweder nur noch für den eigenen Bedarf oder sie
orientierten sich an einem von Konkurrenz be-
stimmten Markt. Es gibt mehrere Gründe, warum
die Klosterskriptorien gegenüber den Lohnschrei-
bern und Auftragsmalern an Bedeutung verloren.
Einerseits hatten die traditionell bücherschreiben-
den benediktinischen Klöster ihre kulturelle Füh-
rungsrolle an die stadtfreundlichen und obendrein
mobilen Bettelorden verloren. Andererseits haben
nun in den Städten Händler und Handwerker ar-
beitsteilige Formen der Buchherstellung entwickelt,
im Vergleich zu denen sich die Herstellung in einer
Hand nicht mehr rentierte. Am komplexesten war
das Pecien-System an den Universitäten, das weiter
unten im Zusammenhang der Rechtshandschriften
besprochen wird. Man kann annehmen, dass ein so
flexibel gewordener und vergrößerter Büchermarkt
auch stilistische Innovationen auf künstlerischem
Gebiet gefördert oder sogar erzwungen hat.
Facetten der Gotik
Die Ablösung der Romanik durch die Gotik schnei-
det so tief in die ästhetische Kultur des Mittelalters
ein wie kein anderer Stil- oder Modenwechsel seit
der Karolingerzeit. Von etwa 800 bis zum Ende des
12.Jahrhunderts hatte man sich in einer Art selbst-
verständlichen Kontinuität zur antiken Kunst gese-
hen. Aus heutiger Sicht erscheint diese Kontinuität
bestenfalls verwachsen und erweisen sich die Stile
zudem mit byzantinischen, germanischen und iro-
keltischen Elementen durchsetzt. Dennocli hatten
selbst die gelegentlichen Erneuerungsbemühungen
in Vorromanik und Romanik den offenkundigen
Sinn, den „Wildwuchs" zu korrigieren, um zum
verlassenen Weg einer besseren Tradition zurück-
zugelangen. Die entwickelte Hochgotik bildete
aber erstmals seit der Völkerwanderungszeit einen
gegenüber der Antike eigenständigen ästhetischen
Kosmos, sie wurde zum erfolgreichsten Gegenmo-
dell zu der nach Ausgewogenheit und atmosphä-
risch gebundener Naturnachahmung strebenden
Klassik. In der Gotik war zwar ebenfalls die Natur-
beobachtung von großer Bedeutung, doch wurden
nun alle Proportionen in die Höhe gezogen, alles
hatte geziert und elegant zu sein und die schön ge-
schwungene Linie bestimmte die schwerelose Er-
scheinung der Gestalten (vgl. Abb. 63). Als Folie

dazu dienten kleinteilige und ornamental gestaltete
Architekturformen (vgl. Abb.56), deren Tendenz
zum spitz Zulaufenden den Gegensatz zur antiken
und antikisierenden Kunst wohl am klarsten sicht-
bar macht (vgl. Abb.29).
Die gotische Malerei hätte wohl kaum diese
Richtung genommen, wenn sie nicht die Prinzipien
der auf Gleichmaß, Feingliedrigkeit und vertikale
Streckung bedachten gotischen Baukunst der Ile-
de-France und Nordfrankreichs übernommen hät-
te. Auch wenn ein weiterer wichtiger Impuls von
Goldschmiedekunst und früher Kathedralskulptur
kam, so brachten diese vor allem die Nachahmung
antiker Skulptur und die künstlerische Naturbeob-
achtung mit ein, nicht aber die eigentlich gotische
Ästhetik. Wie die Entwicklung auch hätte verlaufen
können, lassen die Figuren der Heimsuchung Mari-
ens an der Westfassade der Kathedrale von Reims
aus den zwanziger Jahren des 13.Jahrhunderts er-
ahnen: Sie sind unverkennbar nach dem Vorbild
antiker Statuen gearbeitet und ihre Gestaltung steht
dem Muldenfaltenstil nahe, den der um 1180 schon
berühmte Goldschmied Nikolaus von Verdun
ebenfalls in Anlehnung an antike Gewandfiguren
geprägt hatte. Diese Renaissancebewegung hätte
für die Bildkunst eine andere, antikennähere Stil-
epoche einleiten können, und erst die Orientierung
an der neuen Architektur hat sie davon fortgelenkt.
Der Stilwandel übersprang die Gattungsgrenze zur
Bildkunst selbstverständlich nicht einfach und lan-
ge noch nicht überall. Selbst in der Ile-de-France
und in Nordfrankreich erreichte die Malerei erst
gegen 1250 einen Punkt, an dem sie wirklich „go-
tisch" erscheint.
Durch das übrige Europa trat die gotische Ma-
lerei erst recht keinen schnellen Siegeszug an. An-
fangs war sie eine von verschiedenen Strömungen,
die man vielleicht als „Postromaniken" bezeichnen
sollte, weil das, anders als der Begriff „Protogotik",
nicht auf ein unvermeidliches Ziel hinausläuft. In
der englischen Buchmalerei etwa ist der Muldenfal-
tenstil, der in Paris nach 1235 überholt ist (vgl.
Abb. 19), von dem bedeutenden Malermönch
Matthew Paris noch bis zu seinem Tod 1259 ge-
pflegt worden. Echte Sonderfälle bilden Italien und
Spanien, da es in der dortigen Malerei im 13.Jahr-
hundert praktisch zu keiner Ablösung der Roma-
nik kam.
In Deutschland hingegen etablierten sich für
Jahrzehnte regionale Sonderstile, die mit Recht als
eigenständige „Postromaniken" gelten können.
Diese Stile teilten zwar, wie wir sehen werden, be-

97 4. Der neue Kosmos
der gotischen
Buchmalerei
 
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