162
System bei weitem früher, als im übrigen Europa, vor-
gekommen sey. Diese Behauptung-, anscheinend urkundlich
begründet, versöhnte gewissermaßen die streitigen An-
sprüche Frankreichs und Englands, indem sie dem ge-
meinsamen Boden der Normandie zugewiesen wurden,
und fand daher vielen Anklang. Indessen erhob sich schon
früher der gelehrteste Forscher derselben Gesellschaft nor-
mannischer Antiquare, deCaumont, dagegen, und ihrer
weitern Widerlegung ist denn das oben angeführte Werk
des gründlichen und unbefangenen Britten gewidmet.
Gally Knight stellte sich die Prüfung der Verdienste der
Normannen um die Entwickelung dieses Styls zur Auf-
gabe, und bereiste zu diesem Zwecke die beiden Gebiete,
ans welchen sich die Frage entscheiden mußte, zuerst die
Normandie, und dann Unteritalien und Sicilicn. Ueber
jede beider Reisen erstattete er besondere antiquarische
Berichte, welche das vorliegende, von Herrn v,. Lepsius
übersetzte Werk bilden. Die Resultate seiner Forschungen
sind sehr lehrreich und wichtig. 2» der Normandie findet
er, daß jene Kirchen, in denen man ein so überraschend
frühes Erscheinen des Spitzbogenstyls Nachweisen wollte,
einer sehr viel später» Zeit angehören müssen, da die
Urkunden, aus welchen man diesen Beweis entlehnen
wollte, auf frühere Bauten zu beziehen oder aus späterer
Zeit herrührend und daher unglaubwürdig sind, da man
endlich in nächster Nähe jener Kirchen noch sehr viel
später im Rundbogenstyl gearbeitet hat. Diesen früher»
Styl beobachtet er bei der sehr vollständigen Prüfung
normannischer Bauten bis gegen das Ende des 12ten
Jahrhunderts, mit einigen provincialen Abweichungen,
aber im Ganzen dem gleichzeitigen französischen Style
ähnlich. Nickt eher, als vielleicht um 1173, finden sich
neben Rundbogen in demselben Gebäude einzelne spitze
Bogen. Zunächst im Gewölbe, dann in den Fenstern,
dann in Portalen und den inner» Verbindungsbogen.
Den Anspruch einer in der Normandie einheimischen
Erfindung weist der Verfasser zurück, da sich in Frank-
reich schon früher, namentlich in dem Bau des Abts
Suger zu St. Denis um 1144 und in Nvtre-Dame zu
Paris zwischen 1161 und 1181 Spuren des Spitzbogen-
styls zeigen. Er erinnert daran, daß das Emporstreben
stets das Bemühen der Erbauer christlicher K rchcn ge-
wesen, und daß daher der Spitzbogen, der dieß unter-
stützte, ihnen eine erwünschte Erscheinung seyn mußte.
Um 1200 ist dann der frühere Spitzbogenstyl genügend ent-
wickelt, aber erst um die Mitte des 13trn Jahrhunderts in
seiner ganzen Schönheit auSgebildet. Die Kapelle, welche
Ludwig der Heilige dem Kloster zu Paris zufügte, im
Jahre 1245 geweiht, machte in dieser Beziehung in der
Normandie, wie in ganz Frankreich, Epoche. Der Ver-
fasser vergleicht damit die Fortschritte der Baukunst in
England und erkennt hier schon in frühester Zeit einen !
Einfluß von Frankreich her. Schon 675 wird das Kloster
von Wermouth von Maurern, die der Abt aus Frank-
reich gebracht hatte, in „römischer Weise" erbaut; noch
vor der Eroberung findet (bei der im Jahre 1665 ein-
geweihcten Klosterkirche von Westminster) eine Annä-
herung an die normannische Bauweise statt. Nach der-
selben herrscht diese ausschließlich, wobei jedoch manche
rohere Form, z. B. der schwere Säulenpfeilcr, welcher
in England so häufig, in der Normandie nur etwa in
Krypten vorkommt, als ein Ueberbleibsel sächsischer Kunst
oder ein Zeichen mangelhafter Technik sich erhielt. Von
nun an sind die Umwandlungen der Baukunst in Eng-
land genau dieselben wie in Frankreich, wobei jedoch
Frankreich stets etwas vorangeht. Dagegen bildete sich
der Spitzbogenstyl in England reiner, während er (S. 163)
in Frankreich stets viel vom römischen Charakter bewahrte.
So waren hier freistehende Säulen statt der Pfeiler viel
häufiger, die Capitelle, die Wülste in den Gliederungen
mehr absichtliche Nachahmungen der römischen.
Ganz abweichend von den Bauten im Norden sind
die in Sicilien. Hier findet sich namentlich der Spitz-
bogen bedeutend früher. Zunächst schon an den Palästen
Zisa und Cuba, welche unstreitig von den Arabern her-
rühren und in der Zeit von 870 bis 1037, wie der Ver-
fasser annimmt in der zweiten Hälfte des loten Jahr-
hunderts, erbaut seyn müssen. Dann aber auch in den
normannischen Bauten, zuerst in und bei Palermo, bald
nach dem Jahre 1072, jedenfalls vor 1101, und dann
später in einer Reihe von Kirchen. Ein sehr merkwür-
diges Zusammentreffen fand hier statt. Der Grundriß
der Kirchen war der abendländische in der Form des
langen, lateinischen Kreuzes; manche architektonische Ver-
zierung (z. B. groteske Köpfe zwischen dem Blätterwerk
der Capitelle oder unter dem Dachgesims, das Zickzack u. a.)
sind aus der Normandie herübergebracht; die prachtvollen
Mosaiken sind von byzantinischen Künstlern ausgeführt;
Säulen und Capitelle schließen sich gewöhnlich an römische
Vorbilder an, aber die Spitzbogen über diesen Säulen
und die Kuppeln sind von den Saracenen entlehnt. Der
zuverlässigste Beweis, daß die Normannen den Spitzbogen
nicht auü ihrer Heimath mitgebracht, liegt darin, daß
sie ihn nur in der Umgegend jener arabischen Bauten,
nicht aber in Calabrien anwendeten.
In Sicilien war also der Spitzbogen früher als in
irgend einem christlichen Lande einheimisch. Aber niemals
entwickelte er sich hier, wie im Norden, zu einem festen
und bedeutenden Systeme, er blieb immer, wie in den
arabischen Bauten, ein zierlich unwesentlicher Schmuck,
der ohne durchgreifende Veränderung des Styls auch
anders gestaltet seyn könnte. Der Vers, erklärt (S. 382)
diese Erscheinung daher, daß hier (sicilianischc und byzan-
tinische) Griechen die Baumeister waren, die sich niemals
System bei weitem früher, als im übrigen Europa, vor-
gekommen sey. Diese Behauptung-, anscheinend urkundlich
begründet, versöhnte gewissermaßen die streitigen An-
sprüche Frankreichs und Englands, indem sie dem ge-
meinsamen Boden der Normandie zugewiesen wurden,
und fand daher vielen Anklang. Indessen erhob sich schon
früher der gelehrteste Forscher derselben Gesellschaft nor-
mannischer Antiquare, deCaumont, dagegen, und ihrer
weitern Widerlegung ist denn das oben angeführte Werk
des gründlichen und unbefangenen Britten gewidmet.
Gally Knight stellte sich die Prüfung der Verdienste der
Normannen um die Entwickelung dieses Styls zur Auf-
gabe, und bereiste zu diesem Zwecke die beiden Gebiete,
ans welchen sich die Frage entscheiden mußte, zuerst die
Normandie, und dann Unteritalien und Sicilicn. Ueber
jede beider Reisen erstattete er besondere antiquarische
Berichte, welche das vorliegende, von Herrn v,. Lepsius
übersetzte Werk bilden. Die Resultate seiner Forschungen
sind sehr lehrreich und wichtig. 2» der Normandie findet
er, daß jene Kirchen, in denen man ein so überraschend
frühes Erscheinen des Spitzbogenstyls Nachweisen wollte,
einer sehr viel später» Zeit angehören müssen, da die
Urkunden, aus welchen man diesen Beweis entlehnen
wollte, auf frühere Bauten zu beziehen oder aus späterer
Zeit herrührend und daher unglaubwürdig sind, da man
endlich in nächster Nähe jener Kirchen noch sehr viel
später im Rundbogenstyl gearbeitet hat. Diesen früher»
Styl beobachtet er bei der sehr vollständigen Prüfung
normannischer Bauten bis gegen das Ende des 12ten
Jahrhunderts, mit einigen provincialen Abweichungen,
aber im Ganzen dem gleichzeitigen französischen Style
ähnlich. Nickt eher, als vielleicht um 1173, finden sich
neben Rundbogen in demselben Gebäude einzelne spitze
Bogen. Zunächst im Gewölbe, dann in den Fenstern,
dann in Portalen und den inner» Verbindungsbogen.
Den Anspruch einer in der Normandie einheimischen
Erfindung weist der Verfasser zurück, da sich in Frank-
reich schon früher, namentlich in dem Bau des Abts
Suger zu St. Denis um 1144 und in Nvtre-Dame zu
Paris zwischen 1161 und 1181 Spuren des Spitzbogen-
styls zeigen. Er erinnert daran, daß das Emporstreben
stets das Bemühen der Erbauer christlicher K rchcn ge-
wesen, und daß daher der Spitzbogen, der dieß unter-
stützte, ihnen eine erwünschte Erscheinung seyn mußte.
Um 1200 ist dann der frühere Spitzbogenstyl genügend ent-
wickelt, aber erst um die Mitte des 13trn Jahrhunderts in
seiner ganzen Schönheit auSgebildet. Die Kapelle, welche
Ludwig der Heilige dem Kloster zu Paris zufügte, im
Jahre 1245 geweiht, machte in dieser Beziehung in der
Normandie, wie in ganz Frankreich, Epoche. Der Ver-
fasser vergleicht damit die Fortschritte der Baukunst in
England und erkennt hier schon in frühester Zeit einen !
Einfluß von Frankreich her. Schon 675 wird das Kloster
von Wermouth von Maurern, die der Abt aus Frank-
reich gebracht hatte, in „römischer Weise" erbaut; noch
vor der Eroberung findet (bei der im Jahre 1665 ein-
geweihcten Klosterkirche von Westminster) eine Annä-
herung an die normannische Bauweise statt. Nach der-
selben herrscht diese ausschließlich, wobei jedoch manche
rohere Form, z. B. der schwere Säulenpfeilcr, welcher
in England so häufig, in der Normandie nur etwa in
Krypten vorkommt, als ein Ueberbleibsel sächsischer Kunst
oder ein Zeichen mangelhafter Technik sich erhielt. Von
nun an sind die Umwandlungen der Baukunst in Eng-
land genau dieselben wie in Frankreich, wobei jedoch
Frankreich stets etwas vorangeht. Dagegen bildete sich
der Spitzbogenstyl in England reiner, während er (S. 163)
in Frankreich stets viel vom römischen Charakter bewahrte.
So waren hier freistehende Säulen statt der Pfeiler viel
häufiger, die Capitelle, die Wülste in den Gliederungen
mehr absichtliche Nachahmungen der römischen.
Ganz abweichend von den Bauten im Norden sind
die in Sicilien. Hier findet sich namentlich der Spitz-
bogen bedeutend früher. Zunächst schon an den Palästen
Zisa und Cuba, welche unstreitig von den Arabern her-
rühren und in der Zeit von 870 bis 1037, wie der Ver-
fasser annimmt in der zweiten Hälfte des loten Jahr-
hunderts, erbaut seyn müssen. Dann aber auch in den
normannischen Bauten, zuerst in und bei Palermo, bald
nach dem Jahre 1072, jedenfalls vor 1101, und dann
später in einer Reihe von Kirchen. Ein sehr merkwür-
diges Zusammentreffen fand hier statt. Der Grundriß
der Kirchen war der abendländische in der Form des
langen, lateinischen Kreuzes; manche architektonische Ver-
zierung (z. B. groteske Köpfe zwischen dem Blätterwerk
der Capitelle oder unter dem Dachgesims, das Zickzack u. a.)
sind aus der Normandie herübergebracht; die prachtvollen
Mosaiken sind von byzantinischen Künstlern ausgeführt;
Säulen und Capitelle schließen sich gewöhnlich an römische
Vorbilder an, aber die Spitzbogen über diesen Säulen
und die Kuppeln sind von den Saracenen entlehnt. Der
zuverlässigste Beweis, daß die Normannen den Spitzbogen
nicht auü ihrer Heimath mitgebracht, liegt darin, daß
sie ihn nur in der Umgegend jener arabischen Bauten,
nicht aber in Calabrien anwendeten.
In Sicilien war also der Spitzbogen früher als in
irgend einem christlichen Lande einheimisch. Aber niemals
entwickelte er sich hier, wie im Norden, zu einem festen
und bedeutenden Systeme, er blieb immer, wie in den
arabischen Bauten, ein zierlich unwesentlicher Schmuck,
der ohne durchgreifende Veränderung des Styls auch
anders gestaltet seyn könnte. Der Vers, erklärt (S. 382)
diese Erscheinung daher, daß hier (sicilianischc und byzan-
tinische) Griechen die Baumeister waren, die sich niemals