ÜBER DIE NEUERE RICHTUNO IN DER BAUKUNST
BUCHEINBAND VON WILH. RAUCH, HAMBURG
sogut gegeben, wie heutzutage. Seit des alten
Vitruvius Tagen hat es nicht an Versuchen gefehlt,
bei den weniger begabten Schülern, den Mangel an
künstlerischer Herzensbildung und an Empfindung
für die Stimmung der Bauwerke, durch gewisse Schön-
heitsregeln zu ersetzen, die aus den gemessenen Ver-
hältnissen mustergültiger Bauten abgeleitet wurden.
Es liegt dies in der Natur der Sache, da künstlerische
Feinfühligkeit angeboren sein muss und sich nicht
in den kurzen Lehrjahren beibringen lässt, während
die Regeln und ihre sachgemässe Anwendung leichter
zu erlernen sind. Da nun im letzten Jahrhundert in-
folge der riesenhaften Fortschritte der Technik auch
die Beherrschung des Technischen an den Bauwerken
immer schwerer zu erfüllende Anforderungen an den
Anfänger wie an den Meister stellte, und da anderer-
seits die junge Wissenschaft der Kunstgeschichts-
forschung immer regeres Interesse fand, so geriet die
Ausbildung der künstlerischen Feinfühligkeit stark in
den Hintergrund. Man neigte in dem stolzen Bewusst-
sein der stets neuen Siege des Verstandes über die
Naturkräfte und über die wissenschaftlichen Schwierig-
keiten zu der Ansicht, dass auch im Gebiete der
Kunst der Verstand herrsche und dass in der Be-
achtung gewisser Verhältniszahlen und in feinen An-
deutungen und geistvollen Vergleichen, die eine aller-
dings nur dem Eingeweihten verständliche Sprache,
die architektonische oder vielmehr iektonische Formen-
sprache, reden sollten, der Hauptreiz der archi-
tektonischen Schönheit bestehe. Daneben glaubten
die Kunstgeschichtsforscher den Kunslwert nach der
geschichtlichen Treue der angewendeten Stilformen
beurteilen zu müssen. Ja, sie gingen sogar soweit,
willkürlich die Kunst ganzer Jahrhunderte in Acht
und Bann zu thun als dem Verfall der Kunst an-
gehörig. Wurde doch den Werken der Barock- und
Rokokozeit ein Zeitlang allen Ernstes nur als warnen-
den Beispielen eine Stellung in der Kunst eingeräumt,
ebenso wie man verständnislos und mitleidig auf die
Leistungen der innigen altdeutschen Malerei herab-
sah. Ein Stilfehler war fast ein unauslöschlicher
Schandfleck für einen Baumeister geworden und ein
Verstoss gegen die Tektonik galt für eine höchst be-
dauerliche Leichtfertigkeit. Wir belustigen uns jetzt
mit solchen Erinnerungen, doch war und ist es teil-
weise auch heute noch den Vertretern dieser über-
lebten Meinungen bitterer Ernst mit ihrer Kunst.
Wenn auch die Tektonik mehr zurückgetreten ist,
so ist bis in die letzte Zeit hinein die peinlich ge-
naue Nachbildung alter Stilarten dagegen in geradezu
erschreckender Weise immer mehr in Aufnahme ge-
kommen und erst in neuester Zeit lässt sich ein Ab-
flauen dieser Sucht bemerken. In gewissem Sinne
war diese volkstümlich gewordene Vorliebe für histo-
rische Stilformen eine ähnliche Entartung des in das
Volk gedrungenen und noch unverdaut gebliebenen
Vielwissens, wie seiner Zeit jene seltsame, wohl haupt-
sächlich mit aus dem eifrig betriebenen Unterricht in
den fremden Sprachen entstandene Mode, durch An-
wendung von Fremdwörtern seine Bildung leuchten
zu lassen. Ganz ähnlich erfreute sich auch die Stil-
architektur bei den Halbgebildeten vorzugsweise um
URKUNDENSCHREIN VON GEORG HULBE, HAMBURG
BUCHEINBAND VON WILH. RAUCH, HAMBURG
sogut gegeben, wie heutzutage. Seit des alten
Vitruvius Tagen hat es nicht an Versuchen gefehlt,
bei den weniger begabten Schülern, den Mangel an
künstlerischer Herzensbildung und an Empfindung
für die Stimmung der Bauwerke, durch gewisse Schön-
heitsregeln zu ersetzen, die aus den gemessenen Ver-
hältnissen mustergültiger Bauten abgeleitet wurden.
Es liegt dies in der Natur der Sache, da künstlerische
Feinfühligkeit angeboren sein muss und sich nicht
in den kurzen Lehrjahren beibringen lässt, während
die Regeln und ihre sachgemässe Anwendung leichter
zu erlernen sind. Da nun im letzten Jahrhundert in-
folge der riesenhaften Fortschritte der Technik auch
die Beherrschung des Technischen an den Bauwerken
immer schwerer zu erfüllende Anforderungen an den
Anfänger wie an den Meister stellte, und da anderer-
seits die junge Wissenschaft der Kunstgeschichts-
forschung immer regeres Interesse fand, so geriet die
Ausbildung der künstlerischen Feinfühligkeit stark in
den Hintergrund. Man neigte in dem stolzen Bewusst-
sein der stets neuen Siege des Verstandes über die
Naturkräfte und über die wissenschaftlichen Schwierig-
keiten zu der Ansicht, dass auch im Gebiete der
Kunst der Verstand herrsche und dass in der Be-
achtung gewisser Verhältniszahlen und in feinen An-
deutungen und geistvollen Vergleichen, die eine aller-
dings nur dem Eingeweihten verständliche Sprache,
die architektonische oder vielmehr iektonische Formen-
sprache, reden sollten, der Hauptreiz der archi-
tektonischen Schönheit bestehe. Daneben glaubten
die Kunstgeschichtsforscher den Kunslwert nach der
geschichtlichen Treue der angewendeten Stilformen
beurteilen zu müssen. Ja, sie gingen sogar soweit,
willkürlich die Kunst ganzer Jahrhunderte in Acht
und Bann zu thun als dem Verfall der Kunst an-
gehörig. Wurde doch den Werken der Barock- und
Rokokozeit ein Zeitlang allen Ernstes nur als warnen-
den Beispielen eine Stellung in der Kunst eingeräumt,
ebenso wie man verständnislos und mitleidig auf die
Leistungen der innigen altdeutschen Malerei herab-
sah. Ein Stilfehler war fast ein unauslöschlicher
Schandfleck für einen Baumeister geworden und ein
Verstoss gegen die Tektonik galt für eine höchst be-
dauerliche Leichtfertigkeit. Wir belustigen uns jetzt
mit solchen Erinnerungen, doch war und ist es teil-
weise auch heute noch den Vertretern dieser über-
lebten Meinungen bitterer Ernst mit ihrer Kunst.
Wenn auch die Tektonik mehr zurückgetreten ist,
so ist bis in die letzte Zeit hinein die peinlich ge-
naue Nachbildung alter Stilarten dagegen in geradezu
erschreckender Weise immer mehr in Aufnahme ge-
kommen und erst in neuester Zeit lässt sich ein Ab-
flauen dieser Sucht bemerken. In gewissem Sinne
war diese volkstümlich gewordene Vorliebe für histo-
rische Stilformen eine ähnliche Entartung des in das
Volk gedrungenen und noch unverdaut gebliebenen
Vielwissens, wie seiner Zeit jene seltsame, wohl haupt-
sächlich mit aus dem eifrig betriebenen Unterricht in
den fremden Sprachen entstandene Mode, durch An-
wendung von Fremdwörtern seine Bildung leuchten
zu lassen. Ganz ähnlich erfreute sich auch die Stil-
architektur bei den Halbgebildeten vorzugsweise um
URKUNDENSCHREIN VON GEORG HULBE, HAMBURG