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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 14.1903

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Über die neuere Richtung in der Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.4359#0200

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ÜBER DIE NEUERE RICHTUNG IN DER BAUKUNST

189

WILH. RAUCH, HAMBURG, EINBAND MIT
HANDVERGOLDUNO

deswilllen einer so grossen Verehrung, weil jeder-
mann mit sachverständiger Miene an dem Neubau
die und jene in der Schule auswendig gelernte Stil-
regel feststellen konnte und sich so der sonst so
unnahbaren Architektur als gestrenger Kunstrichter
gegenüberstellen durfte.

Die später Geborenen werden unseren auch von
hochbegabten Meistern und an hervorragend schönen
Leistungen getriebenen Stilkultus wahrscheinlich als
eine völlig unverständliche, krankhafte Fälschungssucht
erkennen.

Die vollbrachte That zeigt auch hier ein wesent-
lich anderes Antlitz und die höchst unbehagliche
Ähnlichkeit zwischen einem falschen Hundertmark-
schein und einem »echten« Bau dämmert schon mehr
als Einzelnen nachgerade auf.

Als man die Unfruchtbarkeit der Tektonik genügend
erkannt hatte, glaubte die Kunstforschung wenigstens
in dem Ausdruck der statischen Kräfte im Bauwerk
das richtige Feld für die Entwickelung der Kunstformen
gefunden zu haben. Aber auch dieses erwies sich
als dürr und steinig und dem allgemeinen Verständnis
unzugänglich; denn was versteht ein Nichttechniker
von den kümmerlichen Anspielungen und der dürftigen
Formensprache, die ihm angeblich das Spiel der stati-
schen Kräfte begreiflich machen sollen. Man be-
hauptete zwar, die Formensprache zu verstehen, aber
nur um nicht als ungebildet zu gelten. Ehrlich ge-
glaubt haben selbst die Väter dieser Formensprache
nicht so recht an ihr eigenes künstlich erzeugtes
Sorgenkind. Die echten Künstler kümmerten sich
wenig um das Treiben der Gelehrten und nur die Ach-
tung vor dem zweifellos geistreichen Grundgedanken,
auf dem sie beruhte, hat die architektonische Formen-
sprache eine Zeitlang davor bewahren können, dass
der glänzende Schleier von ihrem armseligen Leibe
gezogen wurde. Eine Konstruktion, die erst durch
eine Formensprache dem Beschauer verständlich ge-
macht werden muss, ist von Geburt aus verfehlt.
Ein scharf gebautes Segelschiff, eine luftige Halle, eine
leicht gespannte Brücke, ein hoher Eisenturm erklären

sich selbst. Der Versuch, hier durch Akanthus-
blätter, Voluten und Kymatien, die Hauptkraft-
mittel der damaligen Formensprache, nachhelfen
zu wollen, zeigt die ganze Ohnmacht dieser
Sprache auf das deutlichste.

Eine gute Konstruktion bedarf eben gar
keiner Formensprache, da sie in der siegreichen
und leichten Überwindung der statischen Schwie-
rigkeiten schon durch ihre notwendigen nackten
Bestandteile allein den beredtesten Ausdruck
für das statische Kräftespiel giebt, das die For-
mensprache wie ein Ceremonienmeister erst
hoffähig machen und in den geheiligten Bereich
der Kunst einführen möchte. Man könnte das
Gefühl, das die wohlgelungene Konstruktion
unserem Herzen näher bringt und sie uns
in ihrer Art schön erscheinen lässt, mit dem
Ausdruck »befriedigtes Zweckmässigkeitsgefühl«
bezeichnen. Es ist das etwas ganz anderes,
als der zweifellos ebenfalls hohe Genuss, den
der Fachmann durch das Verständnis bedeutender
konstruktiver Gedanken vor dem gebildeten Laien
voraus hat. - - Die konstruktiven Bauteile lassen sich
natürlich bei reicherer Ausführung durch Schmuck
verschönern, aber es wäre engherzig, sich hierbei auf
einen hübschen geistreichen Ausdruck der Zug- und
Druckspannungen zu beschränken, ebenso wie es von
Gedankenarmut zeugen würde, wollte man den
Schmuck nur an dem Gerippe der Konstruktion
zeigen. Die Konstruktion ist für den Baumeister
nur das, was für den Maler und Bildhauer das

O. JEBSEN, EINBAND IN WEISSEM PERGAMENT

MIT HANDVERGOLDUNG (1889),
ENTWURF VON WILHELM WEIMAR, HAMBURG
 
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