ÜBER DIE NEUERE RICHTUNG IN DER BAUKUNST
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eine vornehme Wirkung, in den weiten Achsenteilungen
und der Hervorhebung der Einzelformen durch ruhige
Flächen an Palästen, oder für die ernstfeierliche Stim-
mung, in den hohen Fenstern und den machtvoll
emporstrebenden Pfeilern und Spitzen bei Kirchen
oder für eine majestätische Wirkung, in den gekrönten,
ruhig aufsteigenden Kuppelbauten mancher Dome.
Wenn nun auch die Baukunst in ihrer Ausdrucks-
fähigkeit weit hinter allen übrigen Künsten zurück-
bleibt, so nähern sich ihre Wirkungen doch am meisten
der Wirkung des Naturschönen und können wie diese
eine Grösse erreichen, die von den anderen Künsten
vergebens angestrebt würde. Die von ihr erregten
Stimmungen können aber nur einfachster Art sein.
Die hohe, straff aufgerichtete Haltung eines Menschen
pflegt einen achtunggebietenden, kraftvollen Eindruck
auf uns zu machen. Wo wir die gleiche Haltung an
Gegenständen in der Natur oder in unserer Umgebung
finden, pflegen wir einen ähnlichen Eindruck zu er-
halten, sei es, dass er von einer hochgewachsenen
starken Eiche, einem Felsen oder einem Bauwerk,
dessen Gesamtbild oder dessen einzelne Teile hoch
und straff aufgerichtet sind, ausgeht. Das Gegenteil
von diesem stolzen Eindruck erhalten wir von einem
Menschen, der in gebeugter Haltung mit ruhig herab-
hängenden Armen dasteht oder sich anlehnt. Ein solcher
macht den Eindruck der Niedergeschlagenheit. In
der Natur empfangen wir den gleichen Eindruck von
der gebeugt, mit herabhängenden Zweigen dastehenden
Traueresche und Trauerweide. Wenn wir bei einem
Bauwerk den Eindruck der Trauer hervorrufen wollen,
so suchen wir in dem Linienfluss das Hervortreten
straffer senkrechter Linien zu vermeiden und nähern
uns willkürlich oder unwillkürlich mehr jener schlaffen
gedrückten Linienführung. Wie ein breit und eckig
mit vorgestrecktem Kopfe sich hinstellender Mensch etwas
Drohendes, Trotziges hat, so bewirkt auch ein Gebäude
von solchen Formen den Eindruck des Trotzigen.
So Hessen sich noch manche Beispiele finden.
Auch bei den Einzelheiten lassen sich diese Wir-
kungen verfolgen. So macht ein Flachbogen einen
um so frischeren, keckeren Eindruck, je höher er
geschwungen ist, während er in gedrückter Form
mehr ernst und nüchtern wirkt. Man könnte diese
Wirkung in der Ähnlichkeit suchen, die in ersterem
Falle mit einer hochgeschwungenen Augebraue be-
steht, die einen fröhlichen, flotten Eindruck macht,
während die flachgezogene, der gleichgültigen, alltäg-
lichen Stimmung entspricht. Der Rundbogen könnte
bald an eine hohe freie Stirn, bald an Augenbrauen
oder Augenwimpern erinnern, je nachdem diebetreffende
Öffnung oder Fläche höher oder niedriger ist. Das
Überwiegen der mehr einer Wagerechten sich nähern-
den Linien bei einem Bauwerk verleiht ihm wegen
der Ähnlichkeit mit einem ruhig gelagerten Menschen
ebenfalls etwas besonders Ruhiges, während bei starkem
Überwiegen rein wagerechter Linien das Bauwerk etwas
Totes, Starres erhält, ähnlich einem leblos hingestreckten
Menschen. In der aufrechten oder auch gebeugten
Haltung ist die Totenstarre etwas noch Auffälligeres,
als bei der wagerechten Lage. Eine starre, steife
Linienführung für ein hohes Gebäude hat für uns
daher etwas Abstossendes, Unangenehmes. Umgekehrt
verleiht ein mehr oder weniger stark abwechselnder
Linienfluss dem Bauwerk etwas Frisches, wie wir bei
einem lebhaften Menschen auch mehr oder weniger
stark wechselnde Linien zu sehen gewohnt sind.
Die Ähnlichkeiten finden wir auch bei den rhyth-
mischen Wiederholungen der Bauformen durch die
Achsenteilungen. Der ernste oder heitere Eindruck der
Schauseite eines Gebäudes richtet sich wesentlich nach
der Nachahmung einer mehr oder weniger lebhaften
Bewegung innerhalb der einzelnen Achsenbilder selbst
und in der Abwechslung bei der Aufeinanderfolge
derselben. So macht die schwere, einförmige Säulen-
stellung der sizilischen und ägyptischen Tempel einen
sehr ernsten, die aus leicht emporschiessenden Säulen
bestehende korinthische Ordnung einen heiteren, fest-
lichen Eindruck, während am Parthenon und Erechtheion
die ruhigen aber doch reichen Linien den Eindruck
des weihevoll Feierlichen überwiegen lassen. Ähn-
liche Stimmungsunterschiede lassen sich auch beim
Vergleich der frühen, mittleren und spätgotischen
Bauten durchführen.
J. OLTMANNS, HAMBURG,
BÜCHERSCHRANK IN EICHENHOLZ
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eine vornehme Wirkung, in den weiten Achsenteilungen
und der Hervorhebung der Einzelformen durch ruhige
Flächen an Palästen, oder für die ernstfeierliche Stim-
mung, in den hohen Fenstern und den machtvoll
emporstrebenden Pfeilern und Spitzen bei Kirchen
oder für eine majestätische Wirkung, in den gekrönten,
ruhig aufsteigenden Kuppelbauten mancher Dome.
Wenn nun auch die Baukunst in ihrer Ausdrucks-
fähigkeit weit hinter allen übrigen Künsten zurück-
bleibt, so nähern sich ihre Wirkungen doch am meisten
der Wirkung des Naturschönen und können wie diese
eine Grösse erreichen, die von den anderen Künsten
vergebens angestrebt würde. Die von ihr erregten
Stimmungen können aber nur einfachster Art sein.
Die hohe, straff aufgerichtete Haltung eines Menschen
pflegt einen achtunggebietenden, kraftvollen Eindruck
auf uns zu machen. Wo wir die gleiche Haltung an
Gegenständen in der Natur oder in unserer Umgebung
finden, pflegen wir einen ähnlichen Eindruck zu er-
halten, sei es, dass er von einer hochgewachsenen
starken Eiche, einem Felsen oder einem Bauwerk,
dessen Gesamtbild oder dessen einzelne Teile hoch
und straff aufgerichtet sind, ausgeht. Das Gegenteil
von diesem stolzen Eindruck erhalten wir von einem
Menschen, der in gebeugter Haltung mit ruhig herab-
hängenden Armen dasteht oder sich anlehnt. Ein solcher
macht den Eindruck der Niedergeschlagenheit. In
der Natur empfangen wir den gleichen Eindruck von
der gebeugt, mit herabhängenden Zweigen dastehenden
Traueresche und Trauerweide. Wenn wir bei einem
Bauwerk den Eindruck der Trauer hervorrufen wollen,
so suchen wir in dem Linienfluss das Hervortreten
straffer senkrechter Linien zu vermeiden und nähern
uns willkürlich oder unwillkürlich mehr jener schlaffen
gedrückten Linienführung. Wie ein breit und eckig
mit vorgestrecktem Kopfe sich hinstellender Mensch etwas
Drohendes, Trotziges hat, so bewirkt auch ein Gebäude
von solchen Formen den Eindruck des Trotzigen.
So Hessen sich noch manche Beispiele finden.
Auch bei den Einzelheiten lassen sich diese Wir-
kungen verfolgen. So macht ein Flachbogen einen
um so frischeren, keckeren Eindruck, je höher er
geschwungen ist, während er in gedrückter Form
mehr ernst und nüchtern wirkt. Man könnte diese
Wirkung in der Ähnlichkeit suchen, die in ersterem
Falle mit einer hochgeschwungenen Augebraue be-
steht, die einen fröhlichen, flotten Eindruck macht,
während die flachgezogene, der gleichgültigen, alltäg-
lichen Stimmung entspricht. Der Rundbogen könnte
bald an eine hohe freie Stirn, bald an Augenbrauen
oder Augenwimpern erinnern, je nachdem diebetreffende
Öffnung oder Fläche höher oder niedriger ist. Das
Überwiegen der mehr einer Wagerechten sich nähern-
den Linien bei einem Bauwerk verleiht ihm wegen
der Ähnlichkeit mit einem ruhig gelagerten Menschen
ebenfalls etwas besonders Ruhiges, während bei starkem
Überwiegen rein wagerechter Linien das Bauwerk etwas
Totes, Starres erhält, ähnlich einem leblos hingestreckten
Menschen. In der aufrechten oder auch gebeugten
Haltung ist die Totenstarre etwas noch Auffälligeres,
als bei der wagerechten Lage. Eine starre, steife
Linienführung für ein hohes Gebäude hat für uns
daher etwas Abstossendes, Unangenehmes. Umgekehrt
verleiht ein mehr oder weniger stark abwechselnder
Linienfluss dem Bauwerk etwas Frisches, wie wir bei
einem lebhaften Menschen auch mehr oder weniger
stark wechselnde Linien zu sehen gewohnt sind.
Die Ähnlichkeiten finden wir auch bei den rhyth-
mischen Wiederholungen der Bauformen durch die
Achsenteilungen. Der ernste oder heitere Eindruck der
Schauseite eines Gebäudes richtet sich wesentlich nach
der Nachahmung einer mehr oder weniger lebhaften
Bewegung innerhalb der einzelnen Achsenbilder selbst
und in der Abwechslung bei der Aufeinanderfolge
derselben. So macht die schwere, einförmige Säulen-
stellung der sizilischen und ägyptischen Tempel einen
sehr ernsten, die aus leicht emporschiessenden Säulen
bestehende korinthische Ordnung einen heiteren, fest-
lichen Eindruck, während am Parthenon und Erechtheion
die ruhigen aber doch reichen Linien den Eindruck
des weihevoll Feierlichen überwiegen lassen. Ähn-
liche Stimmungsunterschiede lassen sich auch beim
Vergleich der frühen, mittleren und spätgotischen
Bauten durchführen.
J. OLTMANNS, HAMBURG,
BÜCHERSCHRANK IN EICHENHOLZ