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ÜBER DIE NEUERE RICHTUNG IN DER BAUKUNST
körperung eines behaglichen, reichen Bürgerlebens
zu sehen.
So haftet jedem Stil ein gewisser Nachklang des
Zeitgeistes an, den wir für die betreffende Zeit, als
der Stil erblühte, als den herrschenden anzunehmen
gewohnt sind. Diese Wirkung, die man die historische
Stimmung eines Bauwerks nennen könnte, spielt noch
immer eine grosse Rolle, die auch ihre volle Be-
rechtigung hat, so lange die Sucht nach ^Echtheit«
nicht aufdringlich ins Auge
fällt.
Zur Zeit, als jene Stilarten
die Baukunst beherrschten,
waren die betreffenden Stil-
formen aber der Ausdruck
für alle möglichen architek-
tonischen Stimmungen, und
auch heute noch lassen sich,
wenn nur der richtige Meister
dazu kommt, durch jeden
Stil, abgesehen von der be-
treffenden historischen Stim-
mung, alle architektonischen
Stimmungen zum Ausdruck
bringen. Die Abwandlungen,
welche die einzelnen Stil-
formen erfahren müssen, um
die beabsichtigte Stimmung
zu erzielen, bewegen sich
überall in dem gleichen Sinne.
Überall wird das Ernste durch
kraftvolle Formen mit ruhi-
gem Linienfluss, das Heitere
durch schlanke, leicht be-
wegte Formen, die Trauer
durch gedrückte, schlaffe
Formen und düstere Farben,
die Freude durch schmuck-
reiche, lebhaft gefärbte For-
men und so in ihrer Weise
jede Stimmung durch die-
selbe gemeinsame Abwand-
lung der Stilform zum Aus-
druck gebracht.
Die Stilformen sind also,
soweit sie nicht etwa, wie der
Spitzbogen, durch die Kon-
struktion bedingt sind oder
zur Erzielung der betreffenden
historischen Stimmung für er-
forderlich gehalten werden,
im Grunde genommen, wie das ja auch in ihrer meist
rein zufälligen Entstehung begründet ist, für die eigent-
liche architektonische Wirkung eines Bauwerkes un-
wesentlich. Die Entwickelung der Stilformen ist trotz
aller gelehrten Auslegungen willkürlich und ohne innere
Notwendigkeit verlaufen, und als etwas Zufälliges
haben sie daher mit der Baukunst als Kunst wenig
oder gar nichts zu schaffen. Der künstlerische Zweck,
das ist die Stimmung, lässt sich ebensogut durch
andere Formen erreichen, sobald man von der histori-
THÜRFÜLLUNG FÜR EIN MAUSOLEUM,
IN ALUMINIUMBRONZE GESCHMIEDET
VON H. C. E. EGGERT & CO., HAMBURG
sehen Stimmung absieht. Diese historische Stimmung
hat aber mit der eigentlichen Kunst ebenfalls nichts
zu thun, da sie lediglich in unserer heutigen Auf-
fassung der betreffenden Zeitalter beruht und sofort
verschwindet, wenn entweder das Interesse für die
Geschichtsforschung im allgemeinen oder für das
betreffende Zeitalter wieder nachlässt.
Wenn nun aber die einzelnen Stilformen für den
künstlerischen Gehalt eines Bauwerks unwesentlich
sind, so liegt der Gedanke
nahe, dasjenige als das Wich-
tigste anzusehen, was den
verschiedenen Stilformen ge-
meinsam ist, wenn durch sie
bestimmte Stimmungen aus-
gedrückt werden sollen. Es
ist dann nur ein kurzer Schritt
nötig, um diesen so gefun-
denen oder gefühlten Kern
der Stilformen mit einer
neuen, die Empfindung wo-
möglich noch klarer zum
Ausdruck bringenden Form
zu umkleiden, die alle jene
historischen Formen verlässt.
Warum sollte nicht heutzu-
tage ein Künstler seinem
eigenen Schönheitsgefühl
mehr vertrauen, als den über-
lieferten Formen, die in ihrer
tausend- und abertausend-
fachen Wiederholung ihren
Reiz für ihn verloren haben
und die auch nachgerade der
grossen Menge, der die alten
Formen durch eine ganze
Sündflut von Veröffentlichun-
gen immer wieder vorgeführt
werden, langweilig geworden
sind?
Die Erkenntnis, dass weder
die künstlichen tektonischen
Versuche, noch die Nach-
ahmung alter überlebter Stil-
arten den eigentlichen Aus-
druck für die Eigenart unserer
grossen Zeit bieten können,
wurzelt tief. Die grosse Menge,
die eine ihr fremd gegen-
überstehende Baukunst ab-
lehnt, rief daher seit mehr
als einem halben Jahrhundert immer wieder aufs neue
nach einem »Neuen Stil«. Als ein solcher sich in
dem sogenannten »Jugendstil« mit den sonderbarsten
Grimassen und Sprüngen einführte, da bemächtigte
sich sofort die Mode dieser neuen Formen. Als dann
bei der Pariser Weltausstellung 1900 einige geniale
Künstler in der deutschen Abteilung aus dem gären-
den Most einen trinkbaren, wenn auch noch jungen
Wein zu gewinnen wussten, da jubelte alle Welt dem
befreienden Fortschritt in der bisher planlos umher-
ÜBER DIE NEUERE RICHTUNG IN DER BAUKUNST
körperung eines behaglichen, reichen Bürgerlebens
zu sehen.
So haftet jedem Stil ein gewisser Nachklang des
Zeitgeistes an, den wir für die betreffende Zeit, als
der Stil erblühte, als den herrschenden anzunehmen
gewohnt sind. Diese Wirkung, die man die historische
Stimmung eines Bauwerks nennen könnte, spielt noch
immer eine grosse Rolle, die auch ihre volle Be-
rechtigung hat, so lange die Sucht nach ^Echtheit«
nicht aufdringlich ins Auge
fällt.
Zur Zeit, als jene Stilarten
die Baukunst beherrschten,
waren die betreffenden Stil-
formen aber der Ausdruck
für alle möglichen architek-
tonischen Stimmungen, und
auch heute noch lassen sich,
wenn nur der richtige Meister
dazu kommt, durch jeden
Stil, abgesehen von der be-
treffenden historischen Stim-
mung, alle architektonischen
Stimmungen zum Ausdruck
bringen. Die Abwandlungen,
welche die einzelnen Stil-
formen erfahren müssen, um
die beabsichtigte Stimmung
zu erzielen, bewegen sich
überall in dem gleichen Sinne.
Überall wird das Ernste durch
kraftvolle Formen mit ruhi-
gem Linienfluss, das Heitere
durch schlanke, leicht be-
wegte Formen, die Trauer
durch gedrückte, schlaffe
Formen und düstere Farben,
die Freude durch schmuck-
reiche, lebhaft gefärbte For-
men und so in ihrer Weise
jede Stimmung durch die-
selbe gemeinsame Abwand-
lung der Stilform zum Aus-
druck gebracht.
Die Stilformen sind also,
soweit sie nicht etwa, wie der
Spitzbogen, durch die Kon-
struktion bedingt sind oder
zur Erzielung der betreffenden
historischen Stimmung für er-
forderlich gehalten werden,
im Grunde genommen, wie das ja auch in ihrer meist
rein zufälligen Entstehung begründet ist, für die eigent-
liche architektonische Wirkung eines Bauwerkes un-
wesentlich. Die Entwickelung der Stilformen ist trotz
aller gelehrten Auslegungen willkürlich und ohne innere
Notwendigkeit verlaufen, und als etwas Zufälliges
haben sie daher mit der Baukunst als Kunst wenig
oder gar nichts zu schaffen. Der künstlerische Zweck,
das ist die Stimmung, lässt sich ebensogut durch
andere Formen erreichen, sobald man von der histori-
THÜRFÜLLUNG FÜR EIN MAUSOLEUM,
IN ALUMINIUMBRONZE GESCHMIEDET
VON H. C. E. EGGERT & CO., HAMBURG
sehen Stimmung absieht. Diese historische Stimmung
hat aber mit der eigentlichen Kunst ebenfalls nichts
zu thun, da sie lediglich in unserer heutigen Auf-
fassung der betreffenden Zeitalter beruht und sofort
verschwindet, wenn entweder das Interesse für die
Geschichtsforschung im allgemeinen oder für das
betreffende Zeitalter wieder nachlässt.
Wenn nun aber die einzelnen Stilformen für den
künstlerischen Gehalt eines Bauwerks unwesentlich
sind, so liegt der Gedanke
nahe, dasjenige als das Wich-
tigste anzusehen, was den
verschiedenen Stilformen ge-
meinsam ist, wenn durch sie
bestimmte Stimmungen aus-
gedrückt werden sollen. Es
ist dann nur ein kurzer Schritt
nötig, um diesen so gefun-
denen oder gefühlten Kern
der Stilformen mit einer
neuen, die Empfindung wo-
möglich noch klarer zum
Ausdruck bringenden Form
zu umkleiden, die alle jene
historischen Formen verlässt.
Warum sollte nicht heutzu-
tage ein Künstler seinem
eigenen Schönheitsgefühl
mehr vertrauen, als den über-
lieferten Formen, die in ihrer
tausend- und abertausend-
fachen Wiederholung ihren
Reiz für ihn verloren haben
und die auch nachgerade der
grossen Menge, der die alten
Formen durch eine ganze
Sündflut von Veröffentlichun-
gen immer wieder vorgeführt
werden, langweilig geworden
sind?
Die Erkenntnis, dass weder
die künstlichen tektonischen
Versuche, noch die Nach-
ahmung alter überlebter Stil-
arten den eigentlichen Aus-
druck für die Eigenart unserer
grossen Zeit bieten können,
wurzelt tief. Die grosse Menge,
die eine ihr fremd gegen-
überstehende Baukunst ab-
lehnt, rief daher seit mehr
als einem halben Jahrhundert immer wieder aufs neue
nach einem »Neuen Stil«. Als ein solcher sich in
dem sogenannten »Jugendstil« mit den sonderbarsten
Grimassen und Sprüngen einführte, da bemächtigte
sich sofort die Mode dieser neuen Formen. Als dann
bei der Pariser Weltausstellung 1900 einige geniale
Künstler in der deutschen Abteilung aus dem gären-
den Most einen trinkbaren, wenn auch noch jungen
Wein zu gewinnen wussten, da jubelte alle Welt dem
befreienden Fortschritt in der bisher planlos umher-