ÜBER DIE NEUERE RICHTUNG IN DER BAUKUNST
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suchenden deutschen Baukunst zu. Wenn auch seit-
dem noch keine wichtigeren öffentlichen Bauten dem
sogenannten neuen Stil auf seinem noch etwas schwan-
kenden Wege gefolgt sind, so hat die öffentliche
Meinung doch durch die unverkennbare Abwendung
von der strengen, alten Stiltreue und durch die freiere
Entwickelung des Linienflusses und der Massen-
gruppierung, sowohl bei der Gesamtwirkung als auch
bei dem Einzelschmuck, abgesehen von der kirch-
lichen Baukunst, schon deutlich in die neue Richtung
eingeschwenkt.
Da gerade in der Entwickelung der Baukunst
Sprünge am allerwenigsten gemacht werden können,
so ist das bisher von der neuen Richtung gewonnene,
stets wachsende Gebiet doch ein Beweis dafür, dass
schon viel erreicht ist und dass der Bruch mit der
Tektonik eine längst vollendete und mit der Stil-
architektur eine nahe bevorstehende Thatsache ist.
Mit der Stilarchitektur wird einstweilen in der grossen
Kunst unverkennbar noch weit Vorzüglicheres geleistet,
als mit der neuen Richtung. Aber letztere hat ihre
volle Berechtigung und darf als ebenbürtig in den
Wettkampf eintreten, aus dem sie, wenn nicht alles
trügt, als Siegerin hervorgehen wird.
Die moderne Malerei hat durch die Rückkehr
zur unmittelbaren Wiedergabe der empfangenen Ein-
drücke aus der Natur und aus dem Leben ihre jetzige
Höhe erkämpft. Und sie behauptet diese trotz aller
sich an sie hängenden, marktschreierischen Mache
mit sicherer Hand. In der Baukunst ist ein so rascher und
völliger Bruch mit dem Überlieferten zwar weniger zu
erwarten. Der eine wird länger, der andere kürzer
an den überlieferten Stilformen festhalten. Auf die
von Herzen kommende, überzeugte Kunst haben an-
gepriesene Lehrmeinungen und Schlagworte wenig
Einfluss und das Wesen der Baukunst ist tiefer und
geheimnisvoller als das der Malerei und daher weniger
dem Meinungsstreit zugänglich. Aber schliesslich
wird doch das Vertrauen zu dem eigenen Schönheits-
gefühl, das heute wie niemals zuvor der Künstler
durch den Überblick über die Bauwerke aller Zeiten
und Völker verfeinern kann, überwiegen und den
neueren Bahnen allgemeine Geltung verschaffen. Möge
dieser Umschwung der Baukunst des 20. Jahrhunderts
zu einer ähnlichen Blüte führen, wie sie die Malerei
im 19. Jahrhundert entfaltet hat.
Hildesheim, im Februar 1903.
MOORMANN,
Baurat.
M. A.
NICOLAI
BUCH-
SCHMUCK
O. JEBSEN,
EINBAND MIT
HANDVER-
GOLDUNQ
ENTWURF
VON O. SCHWIND-
RAZHEIM,
HAMBURG
•97
suchenden deutschen Baukunst zu. Wenn auch seit-
dem noch keine wichtigeren öffentlichen Bauten dem
sogenannten neuen Stil auf seinem noch etwas schwan-
kenden Wege gefolgt sind, so hat die öffentliche
Meinung doch durch die unverkennbare Abwendung
von der strengen, alten Stiltreue und durch die freiere
Entwickelung des Linienflusses und der Massen-
gruppierung, sowohl bei der Gesamtwirkung als auch
bei dem Einzelschmuck, abgesehen von der kirch-
lichen Baukunst, schon deutlich in die neue Richtung
eingeschwenkt.
Da gerade in der Entwickelung der Baukunst
Sprünge am allerwenigsten gemacht werden können,
so ist das bisher von der neuen Richtung gewonnene,
stets wachsende Gebiet doch ein Beweis dafür, dass
schon viel erreicht ist und dass der Bruch mit der
Tektonik eine längst vollendete und mit der Stil-
architektur eine nahe bevorstehende Thatsache ist.
Mit der Stilarchitektur wird einstweilen in der grossen
Kunst unverkennbar noch weit Vorzüglicheres geleistet,
als mit der neuen Richtung. Aber letztere hat ihre
volle Berechtigung und darf als ebenbürtig in den
Wettkampf eintreten, aus dem sie, wenn nicht alles
trügt, als Siegerin hervorgehen wird.
Die moderne Malerei hat durch die Rückkehr
zur unmittelbaren Wiedergabe der empfangenen Ein-
drücke aus der Natur und aus dem Leben ihre jetzige
Höhe erkämpft. Und sie behauptet diese trotz aller
sich an sie hängenden, marktschreierischen Mache
mit sicherer Hand. In der Baukunst ist ein so rascher und
völliger Bruch mit dem Überlieferten zwar weniger zu
erwarten. Der eine wird länger, der andere kürzer
an den überlieferten Stilformen festhalten. Auf die
von Herzen kommende, überzeugte Kunst haben an-
gepriesene Lehrmeinungen und Schlagworte wenig
Einfluss und das Wesen der Baukunst ist tiefer und
geheimnisvoller als das der Malerei und daher weniger
dem Meinungsstreit zugänglich. Aber schliesslich
wird doch das Vertrauen zu dem eigenen Schönheits-
gefühl, das heute wie niemals zuvor der Künstler
durch den Überblick über die Bauwerke aller Zeiten
und Völker verfeinern kann, überwiegen und den
neueren Bahnen allgemeine Geltung verschaffen. Möge
dieser Umschwung der Baukunst des 20. Jahrhunderts
zu einer ähnlichen Blüte führen, wie sie die Malerei
im 19. Jahrhundert entfaltet hat.
Hildesheim, im Februar 1903.
MOORMANN,
Baurat.
M. A.
NICOLAI
BUCH-
SCHMUCK
O. JEBSEN,
EINBAND MIT
HANDVER-
GOLDUNQ
ENTWURF
VON O. SCHWIND-
RAZHEIM,
HAMBURG