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VERBORGENE KUNSTSCHÄTZE IN TIROL
Barbara. Darunter in einem fast 2 m langen und
70 cm hohen Untersatz in der Mitte das Familien-
wappen, links der Stifter mit drei Söhnen, alle knieend,
in schwarzer spanischer Tracht — rechts die Stif-
terin mit zwölf Töchtern in Nonnenkleidung. Die
darunter befindliche Inschrift besagt, daß der Freiherr
zu Wolkenstein und Rodnegg diese Tafel im Jahre 1580
gestiftet hat. Auf dem anderen, gegenüber angebrachten
Relief ist im obersten Zwickel Gottvater mit der Welt-
kugel (eine an Wilhelm Busch gemahnende naive
Darstellung), darunter Christus als Schmerzensmann
am Kreuz, jedoch am Fußbrett stehend, dargestellt.
Christus, nur mit dem Lendentuch bekleidet, zeigt
schon ganz die Formen italienischer Hochrenaissance.
Im Hintergrund, ganz als Flachrelief behandelt, sind die
zwei Speere, zwei Geißeln, die Würfel, Zange, drei Nägel,
der Beutel mit dem herausfallenden Gelde des Judas,
endlich der verräterische Hahn abgebildet. So reif
die figürliche Darstellung ist, so primitiv ist die
Symbolik. Man sieht förmlich die Konzessionen, die
ein geschmackvoll italienisch gebildeter Künstler dem
Bergdorfe macht. Im Untersatz links und rechts, um
eine lateinische Inschrift gruppiert, der Stifter mit
Buch und Rosenkranz, und ein Engel, der ein Wappen
hält. Die Inschrift nennt wieder das Jahr 1580 und
den Hieronimus Schüssler als Donator. Da beide
Werke mit S. H. bezeichnet sind, so nehme ich an,
daß der Obengenannte auch der Künstler der Votiv-
tafeln gewesen ist. Beide
Werke sind in starkem
Hochrelief gearbeitet, so-
wohl die Architektur wie
die Figuren sind in rot,
gold, schwarz und blau be-
malt, sowie glänzend er-
halten. — Ungefähr 1 5 Mi-
nuten von dieser Kirche
befindet sich die von St.
Johann, mit schönen Altar-
tafeln und Deckenfresken
von Schöpf. Das Pfarrhaus
jedoch beherbergt eines
der allermerkwürdigsten
und großartigsten Kunst-
werke Tirols, die Krippe
vonNissl,diealle ähnlichen
Darstellungen in München
und Nürnberg weit hinter
sich läßt. Weit hinter sich
läßt in der Zahl der dar-
gestellten Personen, die
hier nur 800 beträgt, so-
wie in der vollendeten
Ausführung, der indivi-
duellen Charakterisierung
der leidenschaftlich be-
wegten Figurinen. Die
Höhe desselben beträgt ca.
30 cm. Dargestellt ist das
Leben Jesu von der Ge-
burt bis zur Himmelfahrt.
/
1
Abb. 8. Detail aus der Krippe von F. Nissl in St. Johann
Aus den vielen Gruppen hebe ich als besonders
schön den Triumphwagen des Herodes, Christus
vor Pilatus, am Brunnen und die Bergpredigt hervor.
Ganz wundervoll sind da die Typen der Juden,
der Pharisäer wiedergegeben. Unsere Abb. 7 zeigt
in der Kreuzigung die Stelle, wo der Heiland
spricht: »Mich dürstet«. Rechts würfeln die Soldaten
um das Kleid Christi. Die Akte der Gekreuzigten
sind alle höchst naturalistisch gestaltet, der des
Heilands desgleichen, nur weicher, edler in den Formen.
Man beachte den hämisch höhnenden Ausdruck des
ganz in der linken Ecke stehenden Pharisäers. In
Abb. 6 kontrastiert die Wut der geißelnden Kriegs-
knechte stark mit der kaltblütigen Ruhe der Zusehenden.
In Abb. 3 der Verleugnung des Petrus, beachte man
neben den rohen, schadenfrohen Gesichtern der
Knechte die stämmige Frau neben Petrus, sowie
dessen charakteristisch abwehrende Bewegung der
Hände und die etwas barocke Wendung des Körpers.
Bild 4, 5, 8 geben einzelne besonders glänzend
charakterisierte Typen des Werkes aus verschiedenen
Szenen wieder. Speziell der reitende Jude ist ein
prächtiger Typus. Kein Gesicht trägt die Züge eines
anderen. Der Reichtum der Gestaltung ist wahrhaft
wunderbar. Viele der Figuren sind laut Bezeichnung
eigenhändig von Meister Nissl selbst, das meiste
jedoch aus der Werkstatt, deshalb aber nicht minder
in der Ausführung. Die Bemalung ist geschmackvoll,
die Erhaltung des Ganzen
tadellos. Leider steht das
alles kunterbunt auf einem
Dachboden untereinander.
Die österreichische Zentral-
kommission sollte da rasch
eingreifen, um den Genuß
eines so großen Kunst-
werkes zu ermöglichen.
Über den Meister Franz
Nissl aus Fügen (26. Juli
1731 bis4.Dezemberi8o4)
wäre nur kurz zu sagen,
daß er nie künstlerische
Schulung genossen, also
sein eignerMeistergewesen.
Weitere Werke von ihm
finden sich laut »Stoffler«
in Stift Fiecht, in der
Pfarre zu Schwaz, und im
Dom zu Brixen. Alle diese
Werke weisen die gleiche
Kraft und Fülle des Aus-
drucks, dieselbe lebendige
Wahrheit und Gestaltungs-
kraft auf, wie unsere Krippe.
Mögen meine bescheide-
nen Zeilen diesen ganz un-
bekannten Meisterwerken
einige Verehrer finden.
FRIEDRICH POLLAK,
Rom.
VERBORGENE KUNSTSCHÄTZE IN TIROL
Barbara. Darunter in einem fast 2 m langen und
70 cm hohen Untersatz in der Mitte das Familien-
wappen, links der Stifter mit drei Söhnen, alle knieend,
in schwarzer spanischer Tracht — rechts die Stif-
terin mit zwölf Töchtern in Nonnenkleidung. Die
darunter befindliche Inschrift besagt, daß der Freiherr
zu Wolkenstein und Rodnegg diese Tafel im Jahre 1580
gestiftet hat. Auf dem anderen, gegenüber angebrachten
Relief ist im obersten Zwickel Gottvater mit der Welt-
kugel (eine an Wilhelm Busch gemahnende naive
Darstellung), darunter Christus als Schmerzensmann
am Kreuz, jedoch am Fußbrett stehend, dargestellt.
Christus, nur mit dem Lendentuch bekleidet, zeigt
schon ganz die Formen italienischer Hochrenaissance.
Im Hintergrund, ganz als Flachrelief behandelt, sind die
zwei Speere, zwei Geißeln, die Würfel, Zange, drei Nägel,
der Beutel mit dem herausfallenden Gelde des Judas,
endlich der verräterische Hahn abgebildet. So reif
die figürliche Darstellung ist, so primitiv ist die
Symbolik. Man sieht förmlich die Konzessionen, die
ein geschmackvoll italienisch gebildeter Künstler dem
Bergdorfe macht. Im Untersatz links und rechts, um
eine lateinische Inschrift gruppiert, der Stifter mit
Buch und Rosenkranz, und ein Engel, der ein Wappen
hält. Die Inschrift nennt wieder das Jahr 1580 und
den Hieronimus Schüssler als Donator. Da beide
Werke mit S. H. bezeichnet sind, so nehme ich an,
daß der Obengenannte auch der Künstler der Votiv-
tafeln gewesen ist. Beide
Werke sind in starkem
Hochrelief gearbeitet, so-
wohl die Architektur wie
die Figuren sind in rot,
gold, schwarz und blau be-
malt, sowie glänzend er-
halten. — Ungefähr 1 5 Mi-
nuten von dieser Kirche
befindet sich die von St.
Johann, mit schönen Altar-
tafeln und Deckenfresken
von Schöpf. Das Pfarrhaus
jedoch beherbergt eines
der allermerkwürdigsten
und großartigsten Kunst-
werke Tirols, die Krippe
vonNissl,diealle ähnlichen
Darstellungen in München
und Nürnberg weit hinter
sich läßt. Weit hinter sich
läßt in der Zahl der dar-
gestellten Personen, die
hier nur 800 beträgt, so-
wie in der vollendeten
Ausführung, der indivi-
duellen Charakterisierung
der leidenschaftlich be-
wegten Figurinen. Die
Höhe desselben beträgt ca.
30 cm. Dargestellt ist das
Leben Jesu von der Ge-
burt bis zur Himmelfahrt.
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1
Abb. 8. Detail aus der Krippe von F. Nissl in St. Johann
Aus den vielen Gruppen hebe ich als besonders
schön den Triumphwagen des Herodes, Christus
vor Pilatus, am Brunnen und die Bergpredigt hervor.
Ganz wundervoll sind da die Typen der Juden,
der Pharisäer wiedergegeben. Unsere Abb. 7 zeigt
in der Kreuzigung die Stelle, wo der Heiland
spricht: »Mich dürstet«. Rechts würfeln die Soldaten
um das Kleid Christi. Die Akte der Gekreuzigten
sind alle höchst naturalistisch gestaltet, der des
Heilands desgleichen, nur weicher, edler in den Formen.
Man beachte den hämisch höhnenden Ausdruck des
ganz in der linken Ecke stehenden Pharisäers. In
Abb. 6 kontrastiert die Wut der geißelnden Kriegs-
knechte stark mit der kaltblütigen Ruhe der Zusehenden.
In Abb. 3 der Verleugnung des Petrus, beachte man
neben den rohen, schadenfrohen Gesichtern der
Knechte die stämmige Frau neben Petrus, sowie
dessen charakteristisch abwehrende Bewegung der
Hände und die etwas barocke Wendung des Körpers.
Bild 4, 5, 8 geben einzelne besonders glänzend
charakterisierte Typen des Werkes aus verschiedenen
Szenen wieder. Speziell der reitende Jude ist ein
prächtiger Typus. Kein Gesicht trägt die Züge eines
anderen. Der Reichtum der Gestaltung ist wahrhaft
wunderbar. Viele der Figuren sind laut Bezeichnung
eigenhändig von Meister Nissl selbst, das meiste
jedoch aus der Werkstatt, deshalb aber nicht minder
in der Ausführung. Die Bemalung ist geschmackvoll,
die Erhaltung des Ganzen
tadellos. Leider steht das
alles kunterbunt auf einem
Dachboden untereinander.
Die österreichische Zentral-
kommission sollte da rasch
eingreifen, um den Genuß
eines so großen Kunst-
werkes zu ermöglichen.
Über den Meister Franz
Nissl aus Fügen (26. Juli
1731 bis4.Dezemberi8o4)
wäre nur kurz zu sagen,
daß er nie künstlerische
Schulung genossen, also
sein eignerMeistergewesen.
Weitere Werke von ihm
finden sich laut »Stoffler«
in Stift Fiecht, in der
Pfarre zu Schwaz, und im
Dom zu Brixen. Alle diese
Werke weisen die gleiche
Kraft und Fülle des Aus-
drucks, dieselbe lebendige
Wahrheit und Gestaltungs-
kraft auf, wie unsere Krippe.
Mögen meine bescheide-
nen Zeilen diesen ganz un-
bekannten Meisterwerken
einige Verehrer finden.
FRIEDRICH POLLAK,
Rom.