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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 12,2.1899

DOI Heft:
Heft 17 (1. Juniheft 1899)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Vom Nackten in der bildenden Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7958#0148

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Wirkung genügen. Man paßt sich nach dem Weniger hin so gut wie
nach dem Mehr hin an.

Deshalb glauben wir: es läuft hier auf eine Erziehungsfrage
hinaus. Das Fertige zu verändern, ist ja stets eine mißliche Sache,
betrachten wir es mindestens nicht als die Hauptaufgabe, sondern beein-
flussen wir zugleich das Werdende. Verschaffen wir unserer Jugend
ein gesundes Verhältnis zum Nackten.

Das kleine Kind steht damit in natürlicher Vertrautheit, es sieht
die Geschwister im Bade wunsch- und trieblos — wenn man will: mit
den Kantischen „interesseloscn Wohlgefallen". Wenn sich das Scham-
gefühl entwickelt, geht es unter den Verhältnissen unsrer Kultur wohl
nicht mehr an, Knaben und Mädchen unbekleidet sich sehen zu lassen,
jedenfalls geht das nicht mehr, sobald die Vorahnungen der Reife um-
gehn. Das aber scheint mir ein Fehler, daß wir die Kinder nun schon vor
Nacktem im Bilde zu „hüten" beginnen und dem so den Reiz des Ver-
botenen zugesellen. Sie bekommen natürlich irgendwo doch Darstellungen
von Nacktem zu Gesicht. Thäten wir nicht besser, die Auslese der Bilder
dem schlechten Pädagogen Zufall weg und in unsre eigne Hand zu nehmen?
Könnten wir nicht die Kinder, ohne daß eine Absicht bemerklich würde, reine
Darstellungen solcher Art zwischen ihrem übrigen Bilderzeug sehen lassen?
Auch edle plastische Werke sind vom Guten; ich weiß aus meiner eigenen
Jugend, wie verständnislos ich erstaunte, als Schulkameraden in den
Flegeljahren sonderbare Bemerkungen machten angesichts der Venus von
Milo, deren Gipsabguß, mir altgewohnt, in unserm Zimmer stand. Und
ich weiß nicht nur aus der Erfahrung an mir selber, dem das Besehen
„nackter Bilder" nie verboten war, wie der offene Umgang damit das
lüsterne Mißverstehen im Keime erstickte. Und dann: offenes, selbstver-
ständliches Sprechen darüber, ihr Väter und Mütter, kein Geheimthun
und Wichtigmachen, dafür aber Hinweise darauf, wie schün und rein die
Welt auch hier ist, und wie gemein nicht nur, sondern auch wie dumm
ist, wer davon nichts sieht!

„Es ist halt hier wie überall: Vorbeugen ist leichter als Heilen.
Giftkeime schwirren in der Luft so viele herum, daß wir gar nicht anders
können: wir atmen sie ein. Jst aber nun gar für den einen Gift, was
sür den andern gesund erquickender Genuß, so dürfte doch schwerlich das
Gescheidteste der Versuch sein, durch eine großartige Desinfektion der ge-
samten atmosphärischen Lufr all dieses Lebendige, das drin herumschwebt,
zu töten. Sondern es dürfte sich mehr empfehlen, was die gute Hygieine
ohnehin so brav überall empfiehlt: abhärten, liebe Freunde, abhärten
und gesund erziehen, damit man die Keime vertragen kann!"

Mit diesen Worten habe ich einmal in einem vernünftig geleiteten
Familienblatt auf die Bitte des Herausgebers gesprochen, als sich wieder
Abonnenten über „unanständige Bilder" beschwert hatten. Jch weitz
auch heute im Prinzip nichts anderes zu sagen. A.

Runstwart
 
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