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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 12,2.1899

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Heft 23 (1. Septemberheft 1899)
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Bartels, Adolf: Volkslied und Kunstlied
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https://doi.org/10.11588/diglit.7958#0364

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volkslted nnd Ikunstlled.

Jn dem Aufsatz von A. Bartcls über Klaus Groth und die Volkskunst
(im zweiten Aprilheft) habe ich bei aller Uebereinstimmung mit dem geschätzten
Verfasser doch einiges mit Fragezeichen versehen müssen. Nicht das, ivorauf er
hauptsächlich hinausgeht, dcnu damit bin ich durchaus einverstanden, aber das,
was nebenbei über das Verhältnis der Volksdichtung zur Kunstdichtung gesagt
wird. Ich weitz dabei recht wohl, datz mit wenigen Namen so viel Unfug ge-
trieben worden ist und noch getrieben wird, wie mit dem des Volksliedes, datz
von einer dichtenden Volksseele nicht gcsprochen werdcn sollte, und daß noch
heute die meisten jenen Namcn anwenden, ohne eine klare Vorstellung damit
zu verbinden. Ob abcr nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, wcnn
nun dcr Unterschied ganz und gar wcggeschafft werden soll? Jch meine doch,
er lätzt sich mit Thatsachen begründen, wenn auch die Grenze, wie immer in
solchen Dingen, nicht haarscharf gezogen werden darf. Wcnn das aber der Fall
ist, so wird es nicht gut sein, eine geschichtlich so fest gewordene Bezeichnung
cinfach über Bord zu werfen, und wird es jedenfalls mehr fördern, dcn Be-
griffen Volkslied und Kunstlied genauere Auffassung und Verwendung zu ver-
schaffen. Vielleicht gcfällt es den Lesern des Kunstwarts, in solchen Fragen
auch dcn Vcrtreter einer nicht immer gern geschenen Zunft zu hören.

Bei dem Namen Volkspoesie denkt man wohl immer zu sehr an Poesie
für das Volk, wenn man auch daneben das aus dem Volke betont. Das
Volk selbst hat mit der Benennung schwerlich ctwas zu thun gehabt; ein Be-
grisf Volkslied ist ihm frcmd, und es rvürde sich vollends dafür bedanken, datz
seine Lieder «für das Volk" sein solltcn als mund- und magengerechte Speise,
es wird vielmehr jederzeit die vornehmere Kunstpoesie höher achten und für
sie nur zu schnell hingeben, was ihm selbst auf der Zunge liegt. Es handelt
sich um eine wissenschaftliche Bezeichnung, eine vom Sammler aufgeklebte Etikette.
Und zwar soll der besondere Name hauptsächlich doch das treffen, wodurch sich daS
Volkslicd in der That von jeder andcrn Dichtung unterscheidet: weniger bestimmte
Eigenheiten des Jnhalts und der Darstellung, als die wunderbare Vielgestaltig-
keit, in dcr es an verschiedenen Orten zugleich lebt, nicht von einzelnen Personen
getragen, sondern eben von dem Volk als solchem und in der Regel nicht auf
einzelne, namhafte Dichter zurückzuführen. Der richtige Gegensatz dazu möchte
Einzelpoesie oder Dichterpoesie heißen, wenn man den NamenDichter sofassen
will, datz sich einer als Dichter und damit als Angehöriger einer höheren Klasse
fühlt. Jenes gehcimnisvolle Ueberall und Nirgends ist es, rvofür man auch
in dern oben crwähnten, nach romantischer Art den Sachverhalt verschleiernden
Bilde von der dichtendcn Volksseele eine Veranschaulichung gesucht hat, nicht
viel anders, als auch Storm in Jmmensee davon spricht, datz das Volkslied
vom Himmel falle. Es liegt jenem Bilde doch etwas ganz Richtiges zu Grunde.
Der eigentliche Vater lätzt sich nicht nachweisen, aber die Volksgerneinschaft übt
wirklich Vaterrechte aus. Es ist durchaus nicht gleichgiltig, datz der erste
Dichter — ein solcher ist selbstverständlich für jedes Lied vorhanden — namen-
los bleibt. Er verfolgt eben keine literarischen Zwecke, und der Nächste nimmt
sein Lied nicht als ein Opus des Herrn So und so auf, sondern als sein Eigen-
tum, schaltet denn auch damit wie mit seinem Eigentume, wirft weg, was ihm
nicht paßt, und thut andcres dazu. So geht es von Mund zu Mund, ganz
wie es Sallet in dem hübschen, von Bartels angezogenen Gedichte bcschreibt,
immer dasselbe und dabei doch unter Umständen recht gründlich umgestaltet,
Aunstwart
 
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