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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 12,2.1899

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Heft 17 (1. Juniheft 1899)
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Bischoff, Arnold: "Ein Heldenleben" von Richard Strauss, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7958#0157

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Daß Strautz an unsere Aufnahmefähigkeit Anforderungen stellt, die
heute unsere Kräfte übersteigen, das gebe ich gerne zu; ganz verdauen können
wir ihn noch nicht, aber unser Ohr wird sich schon an ihn gewöhnen, er wird
unsere Fähigkeiten des Hörens und Derstehens schon so stärken, datz wir ihn
verstehen lernen, wie auch Beethoven, Berlioz und Wagner mit ihren größeren
Anforderungen unsere Verständnisfähigkeit vergrößert haben. Allerdings —
wir müssen Neues lernen. Da wird nun immcr gesagt, die Straußschen Har-
monien und Disharmonien, seine krause Pochphonie könnte man gar nicht ver-
stchen lernen- Sehen wir doch einmal zu, wie sich das musikalische Verstehen ent-
wickclt. Wenn wir einem musikalisch völlig ungebildeten, aber normalen Men-
schen die neunte Beethovensche Symphonie vorspielen, so versteht und begreift
er absolut nichts davon. Eine einzige Melodie wird er erfassen und verstehen,
nämlich die Melodie aus der IX.: „Freude schüner Götterfunke". Warum? Weil
diese Melodie erstens sehr einfach ist und zweitens ganz allein (in den Bässen),
ohne daß das Ohr irgendwie durch Begleitung abgelenkt wird, auf ihn ein-
dringt. Führen wir diesen Menschen nun in Mozartsche Opern, so wird cr
nur die Melodie der Singstimmen, und auch zuerst nur dann, wenn sie sehr
verständlich ist, heraushören. „Reich mir die Hand" wird er verstehen und
als Melodie empfinden, dagegen ist sein Ohr für die Melodie: „Mich verläßt
der Undankbare" noch nicht reif. Von der Begleitung hört er überhaupt nichts,
von einem Unterscheiden der Jnstrumente ist nicht die Rede; zwei Melodien
zugleich herauszuhören, ist ihm unmöglich; erst bei längerer Schulung wird er
das lernen und zum erstenmale geht ihm wohl ein Verständnis hierfür beim
Anhören des Ständchens auf. Er wird sagen: das Orchester (Laute) spielt da
eine ganz andere Melodie, die man aber klar heraus hört; von nun an wird
sein Verständnis rapide Fortschritte machen; er kann zugleich auf das Orchester
und dic Stimmen hören, wenn sie nicht allzu kompliziert sind; er fühlt, wie
gewisse Harmonien kommen müssen und lernt manche Akkordfolgen, dic ihm
früher disharmonisch erschienen, als ganz harmonisch und natürlich begrcifen;
sobald allerdings ctwas Neues auftritt, stutzt er; sein Ohr muß sich da lang-
sam hereinhören; so lernt er allmählich immer schwierigere und kompliziertere
Gebilde begreifen, zwar nicht beim ersten Anhören, aber wohl beim dritten
und vierten. Haben wir uns denn heute nicht an Wagner völlig gewühnt?
Jst uns seine rciche Polyphonie, seine raffinierte Jnstrumentierung nicht so ge-
läufig und natürlich geworden, daß wir Werkc wic die Hugenotten, die einst
als das non pius ulti-L dcr Schwierigkeiten galten, gcradezu dürftig einfach
finden? Wagncr hat eben unser Ohr in die Schule genommen; da hat es lernen
müssen, wenn es ihm auch oft recht schwer fiel, die Sachen zu begreifen. Zwei,
drei Melodien Lbereinander, rapide Taktwechsel (Tristan, III. Akt „O diese
Sonne, ha, dieser Tag") haben wir langsam verstehen gelernt; unser Ohr braucht
zum Verstehen des schnellen Uebergehens aus einer Tonart in die andere nicht
mehr ein halbes Dutzend Zwischenglieder, sondern erfaßt unmittelbar, indem
es sich im Geiste das Fehlende ersetzt. Dem logisch gebildeten Menschcn ist der
Satz: „Gaius ist sterblich" ganz selbstverständlich; der Schüler dagegen muß,
um zu diesem Resultat zu kommen, zuerst Zwischenglieder bilden: alle Menschen
sind sterblich, Gaius ist ein Mensch, also ist Gaius sterblich. Jener ergänzt
im Geiste die Zwischenglieder. Wenn es uns heute schier unbegreiflich vor-
kommt, daß unscr Ohr bei klarer il-äur-Harmonie ein Trompetenmotiv in
ves-äur verstehen soll, so wird es sich auch hieran gewöhnen, wie es sich auch
ganz nett an die nicht allzu einfachen Harmonien des Tristan und der Götter-

Zunibekt ;8ys

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