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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,4.1909

DOI Heft:
Heft 20 (2. Juliheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Von der "Tyrannei" der Mode
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https://doi.org/10.11588/diglit.8817#0093
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Iahrg.22 Zweites Iuliheft 1909 Heft2O

Von der „Tyrannei" der Mode

alle nichtpolitischen Scherzblätter der letzten Monate zogen
^A^junge Damen unter überlebensgroßen Topfhüten als Witz--
ableiterinnen, so daß die Gardeleutnants und die Dackel um
ihr angestammtes Vorrecht im Lande Humoria besorgt werden konnten.
Es wird auch keiner bestreiten, daß diese Mode sehr lächerlich sei.
Nämlich: so lange sie ihm selber noch neu ist. Tritt erst die Ge-
wohnheit ein, so findet auch sie ganz nett, wer im Anfang über sie
gelacht hat. Und nach einiger Zeit werden die Inhaberinnen der
Topfhüte oder doch ihre Gatten und Brüder über wieder eine andre
Mode-Nouveaute lachen, werden die Witzblätter über sie scherzen
und werden trotzdem die Verfechter und Verfechterinnen des Neuen
das Neue durchsetzcn. Und so weiter mit (oder ohne) Grazie in
inkinitnm.

Wirklich bis ins Unendliche?

Mode — das bedeutet nicht ein Problem, sondern einen Ratten-
könig von Problemen. Da ist das psychologische, das uns unter
anderm von Ermüdungserscheinungen und ihrer Auflösung im
vorintio äolootnt erzählt. Da ist das der gewerblichen Produktion,
das unter anderm davon spricht, wie man als Fabrikant diese Psycho-
logischen Erscheinungen durch kluge Verbindung mit sonstigen Kon-
junkturen benutzen kann. Da ist das des Handels, das unter anderm
über das Bedürfnis nach schnellem Umsatz und über die Dienste
nachdenkt, die neue Moden ihm leisten. Da ist das ästhetische, das
unter anderm von der Bedeutung der Mode als Vorführerin neuer
Reize handelt. „Nnter anderm" muß überall dabeistehen, denn ein
Rattenkönig hat mehr als vier Schwänze. Die Erhöhung des Wertes
der Rohmaterialien durch wirklichen oder sogenannten Geschmack, die
Verschiebung von Ausfuhr und Einfuhr zwischen den Ländern durch
die Moden, der Einfluß auf die Preise und also auf die Verwertung
bestimmter Rohstoffe, — solche Worte deuten auf ein paar weitere,
und selbst für den Naturschutz (man denke an das Ausrotten von
Tiercn zu Modezwecken) kann der Einfluß der Mode wichtig sein.
Aber der Vergleich mit dem Rattenkönig hinkt überhaupt: diese Teile
des Modeproblems sind nicht wie die Nagerschwänze aneinander,
sie sind auch ineinander gewachsen, so daß ein Problem-Schwänzlein
dem andern Blut gibt und Blut nimmt.

Woraus folgt: das ist zum mindesten kein Sommer-Thema für
uns! Lassen wir unsre Finger von dem Versuch, hier alles aus-
einanderzuwirren. Nur einen einzigen Faden bitte ich die Leser
so weit nach Möglichkeit loszuzupfen, daß wir ihn in etwas längerer
Ausdehnung betrachten können.

Gibt es wirklich eine „Tyrannei" der Mode?

Meine persönlichen Erinnerungen reichen bis in die Zeit der
nunmehr hochseligen Krinoline zurück, die von Paris aus, das be-
kanntlich die Gebärstätte aller wahren Schönheit ist, wieder einmal

2- Iuliheft syOY 6ö
 
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