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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,4.1909

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Heft 20 (2. Juliheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Von der "Tyrannei" der Mode
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Beaulieu, Héloise von: Von der "Heiligkeit der Natur" und der "Evolution der Liebe": ein Gespräch
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https://doi.org/10.11588/diglit.8817#0096
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man hat sogar die Staatsautoritäten gegen diese Revolutionärin
mobil gemacht. Trotzdem ist sie nicht nur am Leben geblieben, sie
hat sogar auf manchcm Schlachtfeld gesiegt, das bisher der Hof-
kunst und der Modekunst allein gehörte. Auch die Reformtracht
lebt der Mode zum Trotz immer noch und ganz vergnüglich. Mehr,
als daß wir Nicht-Modesklaven auch leben können, verlangen wir
aber fürs erste gar nicht. Vielleicht entwickclt sich in Deutschland
doch mit der Zeit außerhalb der großeu Menge derer, die sich heut
fo und morgen anders nach Schneiderbefehlen kleiden, eine Frei-
schar, die sich nach Kulturforderungen richtet und nicht nach Nouveauts-
Ordres. A

Von der ^HeiligkeiL der Natur" und der ^EvoluLion

der Liebe"

Ein Gespräch*

^W^ie Idealistin: Immerhin müfsen Sie zugeben, daj; dieser
^-D^Literaturzweig das Verdienst hat, das Odium der Nnsittlichkeit
von dem Menschlich-Natürlichen genommen und verkündet zu
haben, daß die Natur heilig ist.

Der Skeptiker: Hm. Ist die Natur denn heilig?

Die Idealistin: Sie fragen? Zweifeln Sie etwa . . .

DerSkeptiker: Ich zweifle. Ach! Ich glaube, daß, wenn es
eine Personifikation der Natur gibt, des mystisch verehrteu „Lebens",
daß diese über ihre Heiligsprechung mit einem Lächeln quittiert.

Die Idealistin: Sie behaupten also, die Natur sei nicht heilig?

Der Skeptiker: Ich will lieber sagen: sie ist weder heilig noch
profan, sondern einfach: sie ist natürlich.

Die Idealistin: Das „Natürliche" ist doch eben das Reine,
Gute.

DerSkeptiker: Man vergißt so gern, daß nicht nur das Schöne,
Gesunde, sondern auch das Häßliche, Kranke Natur ist. Nicht nur
Ferdinand und Miranda, sondern auch Caliban. Gott und das-Tier.
Geben wir einem Schriftsteller die „tzeiligkeit" der Natur zu, so
deduzierl er uns daraus flink die Heiligkeit aller von ihm geschilderten
Vorgänge. Wenn ein Bauernbursche mit seiner Dulzinea im Kornfeld
verschwindet, so stimmt der Schriftsteller seinen großen Dithyrambus
an auf die „Heiligkeit der Natur" — natürlich mit Einbeziehung des
reifenden Korns und der lebensberauschten Insektcn — und die Engel
im Himmel müssen Gloria singen! Dies scheint mir aber nicht nur
geschmacklos, sondern für unkritische Gemüter auch irreführend. Der
Leser, der vielleicht auch schon mal natürliche Regungen verspürt hat,
fühlt sich durch deren heiligsprechung etwa so erhoben wie St. Iour-
dan, als er erfuhr, daß er sein Leben lang Prosa gesprochen habe.

Die Idealistin: Aber wenn irgend etwas verdient, heilig ge-
nannt zu werden, so ist es doch die Liebe junger unschuldiger Menschen!

Der Skeptiker: Sie nehmen an, daß Bauernburschen und

* Mit dcm Abdruck dieses Gesprächs soll seitens der Redaktion vor-
läufig keine Stellung zu den hier crörterten Fragcn genommeu, sollen
diese cinfach als Fragcn vor unsern Lesern ausgebrcitct wcrden. Kw.-L.

68 ^ Kunstwart XXII, 20
 
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