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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 4
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Bie, Oscar: Gesunde und kranke Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0064

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Drama einem „Hannele" gegenüberstellt. An solche
Dinge hat Hauptmann nie gedacht. Er ist ja —
gleichsam die äußerste Konsequenz des Naturalismus
— nur ganz objektiver Dichter seinem Stosfe gegen-
über, er nimmt sich da den Kollegen Crampton, dort
das „Hannele", da die „Weber", dort den Florian
Geper, vertieft sich in das Problem des einzelnen
Stoffes und sucht es zu bewältigen, nur seinem dich-
terischen Gehalte nach, nur dem Reize des Stoffes
nach, der darin liegt. Um über ein Werk wie „Han-
nele" das Urteil sällen zu dürfen: „schauerliches
Rührstück" — muß man doch erst so gut sein und
in das Land des Dichters gehen. Wollte ich Dubocs
Buch vom elektrotechnischen Standpunkt aus beur-
teilen, wäre das derselbe Fehler.

Es ist klar, zu welchen Folgerungen eine solche
Aussassung führen muß. Der Philosoph kommt dazu,
ein Bild, wie den Stuckschen „Krieg" zu verurteilen,
weil es nur die Schattenseiten des Krieges, nicht
seine etwaigen Frühlingskeime darstelle; er kommtda-
zu, über Uhde den Stab zu brechen und irgend ein
Bild von einem gewissen Medovic zu tadeln, weil es
Neros Bacchusfest darstelle, ohne daß irgend einer
der zur Hinrichtung bestimmten Christen die Hand
drohend gegen den Kaiser erhebe. Hätte der Künst-
ler, sagt er, was ja vollständig in den Rahmen des
Vorgangs passend einzusügen war, einen einzigen der
christlichen Todesopfer dargestellt, wie er mit drohend
erhobener Rechten das unausbleibliche Strasgericht
prophetisch aus die üppig sich blähenden Vertreter einer
untergehenden Welt herauszubeschwören schien, so
hätte er seine Darstellung in der wünschenswertesten
Weise im Sinn der geschichtlichen Wahrheit verooll-
stündigt.

Alle die Kunstwerke nun, in denen das Lebens-
prinzip, sei es individuell, sei es geschichtlich, zum
Siege komme, erklärt der Philosoph sür gesund, die
gegenteiligen sür krank.

Überwinden wir zunächst einmal das deutliche
Gesühl, daß hier von Dingen die Rede ist, die mit
der Kunst, wie sie ist, garnichts zu thun haben,
daß alle diese Theorien aus einem völlig kunstsrem-
den Empfinden hervorgegangen sind, und sehen wir
uns zunächst nur in der großen menschlichen Ersahr-
ung um, die uns wahrlich darüber nicht im Zweisel
gelassen hat, welche Kunstwerke lebenssähig waren
und welche nicht.

Es giebt wenige Dinge, über die die Menschen
einig sind, aber darunter gehören die großen Ereig-
nisse der Kunstgeschichte. Daß die Meisterwerke der
griechischen Plastik, die Gewölbebauten der Römer,
die sixtinische Decke des Michelangelo, die Bilder der
van Eyck, die Niederländer des siebzehnten Jahr-

hunderts, die Erscheinung Shakesperes, Goethes
Dichtungen, Beethovens Symphonien und Quartette
groß waren, darüber herrscht meines Wissens keine
Meinungsverschiedenheit. Das ist die trivialste Wahr-
heit, die es geben kann. Die Werke haben gemirkt
auf Einzelne, auf Völkergruppen, auf ganze Kulturen.
Sie sind bestimmende Faktoren gewesen in der geist-
igen Entwicklung der Menschheit. Und wie man
an Bismarck die Größe eines Staatsmannes zu
messen hat, so hat man an ihnen die Größe der
Kunst zu messen. Man muß nicht mit einem irgend-
wie gewonnenen Maßstab der „Gesundheit" an die
Werke herantreten, sondern man muß ihre Kultur-
bedeutung als das Wesentliche nehmen — und das
Wesentliche ist das Gesunde. Was die Entwicklung
des Menschengeschlechts in ausnehmender Weise ge-
sördert hat, das ist gesund. Denn die Menschheit ist
ein großer Körper, für den alle nahrungspendenden
Elemente die Gesundheit bedeuten werden, wie alle
nahrungentziehenden die Krankheit.

Wenn wir nun alle die großen Kunstereignisse
der Menschheit betrachten, so werden wir finden, daß
sie ihre Bedeutung sür die Fortentwicklung unserer
Kultur nicht dem kleinen Prinzip verdanken, ob sie
Leben oder Tod darstellen, sondern einem viel wich-
tigeren und einzig ausschlaggebenden Prinzipe: ob
ihre künstlerische Gestalt die Schöpsung einer neuen
Welt, einer zweiten Natur, ob sie eine Erlösung, cin
Aussprechen schwebender Worte war und von einer
Krast ausging, die sähig war, eine Kultur in ihren
Bann zu zwingen und mit der ganzen Macht sub-
jektiver Ueberzeugung die Größe der Persönlichkeit zu
offenbaren.

Die Kunst ist ein Drang wie die Wissenschaft.
Sie lebt in uns allen. Sie hat keine Ziele, weil
sie sich hüten wird, in irgend einen Priesterzwang
einzutreten.

Wenn auch hier und da solche Priester austreten, sie
zu konstruierten Zwecken benutzen und ihr eine Bestim-
mung einreden wollen, sie macht sich doch immer wieder
von diesen Fesseln los und solgt dem eigenen Be-
weger, der sie treibt, weil sie ist, weil sie lebt und
leben muß. Es ist jener tiese Selbsterhaltungstrieb,
der uns alle am Leben erhält, der aller unserer Thü-
tigkeit die innersten Jmpulse gibt — mag man ihn
„Wille" nennen oder anderswie. Solange dieser
Trieb in voller Krast und Elastizität sortarbeitet,
ist sein Körper gesund und lebenskräftig. Seine höchste
Gesundheit erreicht er, wenn er die äußerste Energie
seines Wesens darstellt, wenn er zum Gipselpunkt in
der Entwicklung der Menschheit wird. Dann wird
sein Werk eine Kulturthat, dann wird das große
Kunst-Ereignis geboren. Man würde die Gesundheit
der Kunst am salschen Maße messen, wenn man sie



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