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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 4
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0066

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rechtlgte Erweiterung des Kreises der Dichtung bedeuten,
von der die moderne Ästhetik Notiz zu nehmen hat. Um
die Programme, Theorien, Dogmen unserer neuen „Schulen"
braucht man sich wenig zu kümmern; sobald aber Werke
vorliegen, die augenscheinlich Form gewonnen haben, soll
man auch die neuen Formen registrieren und nicht, vom
Standpunkte der alten Poetik aus, formlos schelten, was
nur bisher ungewohnte Form hat. Der durchgebildete
Literaturhistoriker sindet übrigens auch immer etwas,
woran er die neuen Formen anknüpfen kann; so liegt
z. B. die Form des naturalistischen Dramas in der Haupt-
sache schon in Maler Müllers pfälzischen Jdyllen „die
Schafschur", „das Nußkernen" u. s. w. ausgebildet vor,
und ferner erinnert das neue „Drama des Nebeneinander",
wie ich das naturalistische Drama einmal irgendwo ge-
nannt habe, aw den Gutzkowschen „Roman des Neben-
einander", der freilich nie recht in Erscheinung getreten ist.
Wenn man will, kann man sogar behaupten, daß das
naturalistische Drama das alte Dogma der französischen
Klassiker von den drei Einheiten vollständig zu erfüllen
strebe; die Einheit des Ortes und der Zeit wird meist aus
natürliche Weise erreicht, nur die Einheit der Handlung
auf künstliche, was zwar dem Prinzip des Naturalismus
widerspricht, aber nicht zu umgehen ist, da man doch nicht
jeden Augenblick etwas Fremdes in seine Handlung hin-
einplumpsen lassen kann, wie das im Leben meist geschieht.
Das Charakteristische des naturalistischen Dramas ist aber,
dem engen Anschluß an die Wirklichkeit entsprechend, das
Nebeneinander, eine Entwicklung kann man bei ununter-
brochen fortlaufender, also höchstens einen Tag dauernder
Handlung, deren Einteilung in Akte oder Szenen nur be-
zweckt, Spielpausen zu schafsen, nicht geben; man sieht
nicht mehr, wie die Charaktere werden, lvie sie sich unter
den Einwirkungen ihrer Schicksale verändern, kaum, wie
sie handeln, nur, wie sie sind, wie sie sich in einem be-
stimmten Milieu ausnehmen und sich zu denen, die das
Milieu mit ihnen teilen, verhalten. Soll doch die Ent-
wicklung eines Charakters gegeben werden, so muß der
Dichter erzählen lassen — und die Erzählung ist der Tod
des Dramas, hieß es srüher. Das Milieu, das Zu-
ständige, das Nebeneinander wird so bei dem naturali-
stischen Drama unwillkürlich die Hauptsache, und die
Menschen kommen einem bisweilen wie Fliegen im Spinnen-
netz vor, wobei dann das Schicksal natürlich auch die häß-
liche Gestalt der Spinne annimmt. Doch ich leugne nicht,
das naturalistische Drama ist eine berechtigte Form, srei-
lich nicht, wie man vielsach zu glauben scheint, die Tra-
gödie der Gegenwart, vielmehr so etwas wie eine „um-
gekehrte Jdylle", das düstere Gegenstück zu dieser einst so
beliebten harmlosen Poesiegattung. Auch die Jdyllen
schrieb man wohl in dramatischer Form; ich will aber
zugeben, daß die dramatische Form den Stosfen des natu-
ralistischen Dramas ein wenig notwendiger ist als der
Jdylle, trotzdem es in der Regel unaufsührbar erscheint,
um so mehr, je besser es ist, da seine glänzende Seite,
das Milieu, die vollständig genaue Widergabe desselben
immer und überall aus dem Rahmen der Bühnenkunst
hinaussallen wird. Das ist oft genug gesagt worden,
und daß Georg Engels den Kollegen Crampton zu spielen
vermag, und daß man selbst „die Weber" aufgeführt, be-
weist ganz und gar nichts dagegen. Das Warum hier
vollständig zu entwickeln, würde zu weit sühren.

Cäsar Flaischlens „Martin Lehnhardt" nun ist der
Form nach ein naturalistisches Musterdrama, der Dichter

hat dem von ihm dargestellten Stück Wirklichkeit auch
nicht den geringsten Zwang anzuthun brauchen, und er
hätte ruhig „Drama" auf das Titelblatt setzen können
statt „fünf Szenen". Die Schwäche der Form, ihre dem
eigentlich Dramatischen abgewendete Tendenz, zeigt sich
freilich auch hier, wie überall, für jedermann deutlich schon
in den Vorbemerkungen des Verfassers zu seinem Dialog.
Zum Beispiel, wenn er seine Heldin Käthe so charakterisiert:
„Jhre Bewegungen haben, obwohl ihr Alter leicht erkenn-
bar, etwas feingelenkig mädchenhastes; natürlich adliches
Wesen, sich selbst etwas wert, gern sroh und munter, trotz
einem leisen Anflug von Sentimentalität; ab und zu auch
ein wenig kokett, doch nie ausdringlich. (Es ist eine der
Frauen, die für ihre Umgebung zu einer Art Jdeal werden
und die es auch für andere würde, wenn diese ihnen nicht
die eigene Jdeallosigkeit und Beschränkung vorwürfen.) . .
Obwohl hinlänglich mit den Gepslogenheiten ihres Mieters
bekannt, etwas verwundert, u. s. w." Entweder springt alles
dies, selbst die Mädchenhaftigkeit der Bewegungen, aus
dem dramatischen Dialog hervor, und dann sind die Vor-
bemerkungen äußerst überflüssig, oder es springt nicht dar-
aus hervor, und dann mag der Verfasser sein Werk ins
Feuer werfen. Wenn er sagt: „Obwohl hinlänglich mit
den Gepflogenheiten ihres Mieters bekannt", so glauben
wir ihm das einfach gar nicht, wenn wir's nicht aus dem
Stücke selbst ersehen. Wozu also diese vielsach komisch wir-
kenden Randbemerkungen? Weil Gerhart Hauptmann da-
mit den Anfang gemacht hat? Geht etwas nicht in die von
Euch gewählte dramatische Form aus, so müßt ihr eben
Novellen schreiben! Doch, wie gesagt, von einigen dieser
Geschmacklosigkeiten abgesehen, ist Flaischlens Werk sormell
musterhaft. Der Jnhalt ist kurz solgender: Ein schwäbischer
junger Theolog, Martin Lehnhardt, kommt von Tübingen
nach Berlin, um das Leben kennen zu lernen, zugleich
auch in der geheimen Hoffnung, der heimischen theologi-
schen sowohl wie anderer Beschränktheit für immer zu
entrinnen. Er stürzt sich ins Genußleben der Großstadt,
lernt die Sünde kennen, trisft aber im rechten Angenblick
aus eine viel ältere Frau, die ihn in reinere Regionen
zurücksührt, als seine Geliebte sreilich. Jn ihrem Hause
lebt er nun, hat bereits durch eine anonyme Broschüre
„Wie es sein könnte" in die Kämpfe der Gegenwart ein-
gegriffen, aber doch nicht mehr den Mut und die Freudig-
keit, die Messiasrolle, in üie er sich hineingeträumt, durch-
zuführen, ist im Grunde stark Dekadent. Da besucht ihn,
um sein leibliches und seelisches Wohl in Sorge, sein
Onkel, ein bibelglüubiger schwäbischer Pfarrer, und ob-
wohl Martin sich einen Trotzdem-Christen nennt und die
Gottheit sozusagen in seinen Willen aufgenommen hat, er-
folgt ein furchtbarer Zusammenstoß, bei dern sich die ganze
innere und äußere Existenz des jungen Bienschen enthüllt.
Käthe, eine dreiundvierzigjährige Frau, deren Mann seit
zehn Iahren im Jrrenhause ist, muß selbst eingestehen,
daß sie die Geliebte des Fünsundzwanzigjährigen sei. Eine
Versöhnung zwischen Oheim und Neffen ist nun natürlich
völlig ausgeschlossen; der Vertreter des kirchlichen Dogmas
nennt üen Vertreter der Gewissenssreiheit einen erbärm-
lichen Lumpen. Ich sürchte fast, daß auch Leute, die nicht
den religiösen Standpunkt des schwäbischen Psarrers teilen,
ihm in seinem Urteil über seinen Neffen recht geben werden;
jedenfalls ist der Mann, der, wie er sehr drollig sagt, die
Welt aus den Angeln heben würde, wenn er nur ein
bischen Mut hätte, trotz der bereits geschriebenen Broschüre
und der stolzen Redensarten, die er seinem Oheim ent-
 
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