Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

DOI Heft:
Heft 5
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Kokotten im Tempel
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0080

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext


auf dieser von feinen Erinnerungen umfchwebten Bühne
franzöfifche Stücke franzöfifch dargestellt werden, stört
uns an und für sich nicht im mindesten. Mit fehr
ehrlicher Freude fogar würden wir's begrüßen, wenn
ernste Hofbühnen durch Vorführung ernfter Dramen
hälfen, uns das Fühlen und Schauen der Nachbar-
völker zu offenbaren. Und wenn wir hier von Ernst
reden, so denken wir nur an Kunfternst, den ja
das ausgelaffenfte Lustspiel fo gut zeigen kann wie
die düsterfte Tragödie.

Was aber hat Madame Judic mit Kunst zu
thun?

„Unterfuchen wir einmal," fchreibr uns der Mün-
chener Berichterstatter des Kunftwarts, „die Sachen
auf ihren aesthetifchen Wert. Da muß ich einge-
ftehen: der Umstand allein, daß die meiften dieser
Stücke einem fittlich verdorbenen Boden entsprofsen
find, daß fie faft nur Kokottenwirtfchaft zum Jn-
halt haben, diefer Umftand, fage ich, könnte allein
mich nicht gegen fie einnehmen. Jch mußte erst
wisfen, in welcher Art und zu welchem Zweck uns
diefe versumpften Verhaltniffe vorgeführt werden.
Was nun die Art der Stoffbehandlung in ihnen an-
belangt, fo meine ich zweierlei Geist in ihnen unter-
fcheiden zu können: einerfeits einen witzigen Ueber-
mut, der ja fehr oft geschlechtliche Dinge zum Ge-
genftande nimmt, sich aber felbst innerhalb einer
verderbten Sphäre immer mit einer gewiffen liebens-
würdigenHarmlofigkeitbewegt; andrerfeits eine scham-
lofe Lüfternheit, die fich darin gefällt, das ge-
schlechtlich Anziehende des Weibes in herbeiwinkende
Frechheit verwandelt vor aller Augen auszubreiten.
Das eine aber fowohl wie das andere, beides findet
fich in dem cinen gemeinfamen Zwecke zusammen, das
Publikum zu amüsieren und zwar zu amüsieren um
jeden Preis und nur zu amüsieren. Und damit
füllt für mich die letzte Berechtigung eines Anspruches
weg, den fie etwa noch trotz der vielfach obfzönen
Art ihrer Darftellung darauf erheben könnten, irgend
einer Art Kunstgattung anzugehören. Selbst nicht
der höchstgeschürzten; denn von jedem Kunstwerk
dürfen wir wohl verlangen, daß es vor allem ein
Stück Leben, Leben im weitesten Sinne genommen,
aufrichtig darftelle". Bei allem hier Gebotenen aber
fei die Darstellung durchaus nur Mittel zu einem
außerhalb der Sache felbst liegenden Zweck, — und
zwar zu einem Zwecke, der mit Kunft etwa fo viel
zu thun hat, wie das Trikotkoftüm der Balleteusen,
das ja freilich auch von unsern Hoftheatern pietütvoll
bewahrt wird.

Unser Berichterstatter braucht fchwerlich Eides-
Helfer. Denn kaum wird ein einziger selbst un-
ter den feurigften Bewunderern dieser franzöfifchen
Dame, ihres „Künstlerperfonals" und der Operetten

ihres Herzens das Alles als echte Kunst bezeichnen,
wenn man ihn Aug in Auge um seine Herzens-
meinung fragt.

Wir fagen's noch einmal: wir find keine Chau-
vinisten. Und zudem: mit dem Werden einer natio-
nalen deutschen Kunst, das wir auf's innigste erstre-
ben, hat diefe ganze Frage gar nichts zu thun. Jm
Boden der Heimat felber foll unsere Kunst wurzeln,
das ist's, was wir erfehnen, nicht in einem Kübel,
festwurzeln foll fie in der deutschen Erde, gerade um
recht hoch hinaufzuwachfen ins Reich der Lüfte. Wie
töricht wäre der Gedanke, ein Wind könnte dann dem
Wipfel fchaden, weil er etwa als Süd oder West
aus Welschland käme! Wenn also Pariser Kokotten-
tum in rücksichtslosester Weise mit echtem fittlichen
Ernft behandelt wird, wie etwa von Zola in feiner
so vielfach stumpffinnig mißverftandenen furchtbaren
„Nana", oder auch mit dem überlegenen Lächeln
wahrhaft weltweifen und deshalb gerade recht sittlichen
Humors, fo werden n.ür keinen reifen Menfchen da-
von abhalten wollen, das in fich aufzunehmen und
zu verarbeiten. Anderfeits: follte ein deutfches Hof-
theater dazu mißbraucht werden, die Berliner Huren-
wirtschaft in deutscher Sprache zu keinem andern
Zweck zu behandeln, als zu höchst möglicher Stei-
gerung des Amüfements, so würden wir uns dazu
genau ebenso stellen, wie jetzt zum Münchener.

Soweit, Gottlob, find wir noch nicht. Aber auch
an andern Hof- und Stadttheatern muß der sorg-
fame Chronift oft genug , allerlei Seltfames verzeich-
nen. Und dann — das Münchener Residenztheater
ist ja eine „führende" Bühne: vielleicht ist's gut, zu
feinen Neuerungen klar Stellung zu nehmen, ehe sie
über die deutschen Lande ihren Samen streuen.

Freilich, geht's weiter wie es geht, fo wird das
deutfche Volk dran auch nicht zu Grunde gehen. Das
deutsche „Volk" läuft ja überhaupt nicht ins Münchener
Refidenz- noch in andere deutfche Hoftheater, das
„hat's nicht dazu", und wenn es einmal feinen Gro-
fchen für die dritte bis fünfte Galerie anlegt, so
will's laut Zeugnis eben der Kaffenausweise von
Hoftheatern klaffische oder fonst Stücke, von denen
man was mit nach Hause bringt. Franzöfifche Stücke
versteht ja der kleine Mann auch nicht. Da sind
„die durch Bildung und Besitz maßgebenden Kreise"
unter fich. Ganz wie beim traulichen Blumenpflücken
aus „Nana", bei dcr die Obrigkeit die Unsittlichkei-
ten, fo zum Verbote führten, ja auch nur in der
deutschen Ueberfetzung finden konnte, nicht in dem
nach wie vor unbeanstandeten Original. Das konn-
ten ja nur Leute lesen, die alles richtig auffasfen
— felbverständlich.

Sollten aber die Dinge so weiterlaufen, fo be-
mühe man fich wenigstens in Zukunft, wenn's an-
 
Annotationen