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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 7
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Erdmann, Karl: Einbildung, Heuchelei und ihr Nutzen
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0112

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zu Sorrent geboren ward und ebenso lernt
man auswendig, daß sein „Befreites Jerusalem"
eines der größten Meisterwerke der Weltliteratur ist.
Wer will so unbescheiden sein, die Ergebnisse der
Literaturgeschichte zu bezweiseln? Und wenn man
immer wieder liest, daß „das üesreite Jerusalem"
zu bewundern sei, so bewundert man's schließlich
wirklich, auch ohne es je zu lesen. Kommt man
aber zum Lesen, so kann das nicht mehr ganz
unbefangen sein- Die Suggestion des großen Na-
mens, die Heiligkeit der Ueberlieserung macht sich gel-
tend. Wer kann einem Könige ebenso unbefangen
entgegentreten, wie einer Kasfeehausbekanntschast? Der
Loyale gerviß nicht, aber noch weniger der begeisterte
Demokrat.

Man muß sich hüten, einer nur eingeredeten,
nicht aus eigener Anschauung beruhenden Wertschätzung
Ehrlichkeit und Festigkeit abzusprechen. Auswendig
gelernte Werturteile können mit der Zeit die Gerviß-
heit mathematischer Axiome annehmen. Jch habe es
erlebt, daß ein trefslicher, alter Herr in unbeschreib-
lichen Zorn geriet, als irgerid ein Jüngling in Ge-
sellschaft äußerte, zwei Zeilen eines Modernen seien
ihm lieber als der gesamte Jean Paul, er war ties
verletzt, daß man einen „Titanen der Literaturge-
schichte" mit einer modernen Tagesgröße auch nur zu
vergleichen wagte. Später stellte sich heraus, daß
der sragliche Herr auch nicht eine Zeile von Jean
Paul gelesen. Er hatte also eigentlich keine Gründe
sür seine Ueberzeugung, aber sie war deshalb nicht
minder stark und ehrlich, als die des Jünglings, der
wahrscheinlich von Jean Paul ebensoviel kannte.

Man muß sehr unersahren sein um zu wühuen,
daß die Ueberzeugungen der Menschcn, mögen sie
ästhetischer oder ethischerNatur sein, aus „Gründen", daß
sie aus eigenen Erfahrungen beruhen. Wie wenige
sind sähig, aus sich heraus eine Lebensanschauung
zu erzeugen, sie sich selbst zu erkämpsen. Der großen
Mehrzahl wird sie suggeriert. Was für die Jugend
die Schule planmäßig bewirkt und das Lehrbuch, das
erzeugt später mehr zusüllig und unbewußt der ge-
sellige Verkehr und die Zeitnngslektüre. Die Meinung
der Umgebung wirkt ansteckend, der Einsluß der dort
gültigen Autoritäten und anerkannten Grundsätze ist
sast unvermeidlich. Die meisten glüubigen Protestanten,
die den Katholizismus als Jrrlehre „erkennen", würden
ebenso gute Katholiken sein, wenn ihre Eltern sich zu
diesem Glauben bekannt hütten. Eine Geheimrats-
tochter hat nicht die leiseste Ahnung, was der Sozialis-
mus erstrebt, aber sie „weiß", daß alle Sozialisten
böse Menschen sind, und sie verabscheut sie ehrlich.
Und der junge Jndustriearbeiter hat keine klareren
Begrisse über die Sozialdemokratie als die Geheim-
ratstochter, aber er „weiß", daß sie ein Evangelium

ist, das die Menschheit erlösen wird. Diese vielsach
unbewußte aber ununterbrochene Macht der Suggestion
ist allenthalben rvirksam, natürlich auch aus künstlerischem
Gebiet. Und so hüngt es bei vielen, sehr vielen
nur von dem Kreise ab, in dem sie leben, ob sie
zum Naturalismus schwören oder ihn verdammen.

Kritiker, auch tüchtige Kritiker stehen ratlos vor
ganz neuen Erscheinungen, sür deren Beurteilung eine
Parole noch nicht ausgegeben ist; die Sicherheit des Ur-
teilA schwindet, wenn sie einmal ganz auf sich selbst
angewiesen sind. Nicht allzuviele nnirden die Probe
bestehen, wenn man ihnen Werke berühmter Meister
als solche unbekannter Künstler oder nnbedeutende
Leistungen unter klangvollen Namen in glaubhafter
Weise darböte, nicht allzuviele würden dann genau so
urteilen, wie sie unter normalen Bedingungen gethan
hätten. Wer will sich rühmen, ganz unbeeinslußt von
Umgebung und konventioneller Wertungsweise zu sein?
Jedermann thut gut, sich hier skeptisch gegen sich selbst
zu verhalten. Zum großen Hausen — sagt Schopen-
hauer — gehört immer grade einer mehr als jeder
denkt.

Wo aber die Suggestion unwirksam bleibt, wo
trotz aller Beeinslussung cine natürliche üsthetische
Reaktion, ein instinktives Gesallen und Mißsallen sich
einstellt, das im Gegensatz zur herrschenden Anschau-
ungsweise steht, auch da wird das natürliche Em-
psinden noch nicht ohne Weiteres unbesangen geäußert.
Die Disziplin der Gesellschast, die Macht der Sitte
verlnngt wenigstens äußerliche Unterwersung unter
die herrschende Wertungsweise. Jst auch das Em-
psinden srei, so ist es doch nicht das Urteil in Wort
und That; es wird geheuch elt. „Jch bin für keincrlei
höheren künstlerischen Eindruck empsättglich, ich liebe
nur Gassenhauer, Tänze und Märsche, langweile mich
bei Goethe, aber verschlinge Kriminalromane und so-
genannte Humoresken, ich gehe grundsätzlich nicht in
die Gnlerien und ziehe eine Zirkus-Vorstellung einem
Trauerspiele bei Weitem vor" hat man je in Ge-
sellschast so reden hören? Und doch gibt dieses Urteil
die wnhre Ueberzeugung wirklich nicht weniger wieder.

Aesthetisieren muß heutzutage beinahe Jedermann.
Wie die seine Sitte es sordert, daß jeder, dcr sich zur
gebildeten Gesellschast zählt, die Formen der Höslich-
keit kennt, so sordert sie auch die Fähigkeit über Kunst
und künstlerische Tagessragen ein Gespräch zu sühren.
Neben persönlichem Klatsch und Politik hat die
Künst den Löwenanteil an der durschnittlichen Unter-
haltung in gebildeten Kreisen. Zur Abgabe positiver
Fachkenntnisse wiro man sich selten veranlaßt sinden.
Man braucht in Gesellschast nicht unbedingt zu wissen,
wann der erste punische Krieg war, in welche Klasse
des Linneschen Systems der gemeine Steinbrech ge-
hört, und unter welchen Graden Ceylon liegt. Auch

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